Warum klären die populären ARD-Wellen nicht über psychiatrische Krankheiten auf?

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Jeder dritte Europäer leidet an einer Störung des Gehirns

In der SZ zieht ein Psychiater folgenden Schluss:

"Das niedrige Problembewusstsein gekoppelt mit dem Unwissen über das wahre Ausmaß hinsichtlich Häufigkeit, Belastungen und Störungen in allen Gesellschaften und Schichten ist das zentrale Hindernis für die Bewältigung dieser Herausforderung."

Wie geht das Radio mit diesen Erkenntnissen um? Wird überhaupt darüber berichtet? Oder kommen psychische Störungen im Gegensatz zu Bluthochdruck oder Herzinfarkt nur vor, wenn es um Rechtsbrecher geht?

Jedenfalls kommt die SZ zu bemerkenswerten Erkenntnissen:

Es sind psychische und neurologische Störungen, die die Europäer am meisten belasten...(in der) bislang beste(m) und umfassendste(n) epidemiologische(n) Studie zum Thema...Der neuen Analyse zufolge leiden jedes Jahr 38,2 Prozent der Europäer oder 164,8 Millionen Menschen an einer neuropsychiatrischen Störung...Wie bereits andere Studien gezeigt haben, steigt nicht die Zahl der Erkrankungen, sondern die Häufigkeit der Diagnosen. Patienten und Ärzte sind aufgeklärter. Doch immer noch werden die absoluten Zahlen unterschätzt...Immer noch herrschten extreme Missstände in der Versorgung psychisch Kranker, weniger als ein Drittel der Betroffenen werde überhaupt behandelt...mit jahrelanger Verzögerung und nicht nach dem Stand der Wissenschaft. Dies sei umso bedenklicher..., da viele psychische Leiden bereits früh beginnen und dann das weitere Leben überschatten und zusätzliche gesundheitliche Komplikationen auslösen können.
http://www.sueddeutsche.de/wissen/v...eidet-an-einer-stoerung-des-gehirns-1.1139292
 
AW: Jeder dritte Europäer leidet an einer Störung des Gehirns

Was, nur jeder dritte Europäer? Ein guter Freund von mir, als Psychotherapeut tätig (und zwar als aus meiner Sicht ganz hervorragender, der nach einer Methode arbeitet, die das für mich derzeit beste Modell zur Beschreibung unserer Innenwelt darstellt), ist davon überzeugt, daß weit mehr als 90% der Menschen in den Industriestaaten (zumindest in Deutschland) schwere psychische Probleme haben. Sie sind dadurch im Alltag allesamt mehr oder weniger behindert, in ungesunden Beziehungen, sowohl privat als auch beruflich, oft weit jenseits ihrer eigentlichen Fähigkeiten und Neigungen, getrennt von der Schöpfung, mechanisch funktionierend.

Nur die Spitze des Eisberges wird bis heute überhaupt als "nicht gesund" zugelassen. Dabei ist es und sind es viel, viel mehr. Klar, daß das niemand wahrhaben will. Sämtliche Machtstrukturen, sämtliche Staaten, große Teile der Industrie und alles andere drumherum fußt letztlich auf der Befriedigung dieser Störungen. Kleines Gedankenspiel: was würde passieren, wenn all diese Störungen plötzlich weg wären, bei allen Menschen?

Als "Störung des Gehirns" würde ich das dann aber doch nicht bezeichnen wollen, denn es geht nicht primär um das, was man dann gerne unterstellt: eine Art "Krankheit im Kopf", die technisch auf irgendeinem Wege meßbar und mittels irgendwelcher Medikamente "heilbar" ist. Das wäre falsch und viel zu eingeschränkt gesehen. Sicher ist in vielen Fällen eine Veränderung im Hirnstoffwechsel zu messen, aber ob diese Änderung nun Ursache oder Folge der beobachteten "Szörung" ist, kann wohl niemand angeben. Das System ist deutlich komplexer. Ich tendiere inzwischen dazu, meßbare Vorgänge im Hirn bereits als Antwort zu sehen, die sich über chemische Botenstoffe ihren Weg in die Außenwelt und damit in die Wahrnehmung bahnt. Dort in Therapien anzusetzen, bedeutet nichts anderes als "Redeverbot" für die Innenwelt. Unzählige Psychiatrie-Insassen zeugen davon, daß dies der falsche Weg ist.

Ich nehme meine Umwelt auch als faktisch komplett gestört wahr - mich inklusive - und kenne beim besten Willen nur ganz wenige Menschen, deren Störungen wirklich nur bedauerliche leichte Einschränkungen sind, die ihnen selbst keinen größeren Schaden zufügen. "Störungsfreie" Innenwelten sind mir noch nie begegnet, wobei ich auch gar nicht weiß, ob ich die als selbst gestörter überhaupt erkennen könnte.

Was das Radio damit anstellt? Vielleicht ein Gespräch auf dem DLF oder eine einstündige Runde mit zwei, drei Auskennern auf einer der Kulturwellen. Die anderen werden außer der Meldung nichts dazu bringen. Es würde dort auch verpuffen.
 
AW: Jeder dritte Europäer leidet an einer Störung des Gehirns

Na jetzt mal langsam, bevor hier überdramatisiert wird. Der Oberbegriff "neuropsychiatrische Störungen" ist sehr weit zu fassen. Wir müssen hier Menschen mit Ein- und Durchschlafstörungen genauso hinzurechnen wie beispielsweise Menschen mit Anfallsleiden (Epileptiker), die aber aufgrund hervorragender Medikamentierung dauerhaft anfallsfrei bleiben.
Folge: Allein diese große Bevölkerungsgruppe wird einfach nicht wahrgenommen - und das ist an sich ja erst mal kein Fehler, denn es sind ganz normale Menschen. Sie haben lediglich eine geringfügige Einschränkung der Lebensqualität.

Nur mal am Rande: Jeder Epileptiker - auch die anfallsfreien - sind antragsgemäß als behindert, mit Ausweis, anzusehen. Das bringt gewisse steuerliche Vorteile und, wenn auch nicht mehr so stark wie früher, einige Vorteile am Arbeitsplatz mit sich. Andererseits wird das auch gerne verschwiegen. Man könnte, darauf fußend, jetzt ein riesiges Fass über behinderte Menschen in der Mitte unserer Gesellschaft aufmachen - allesamt neuropsych eingeschränkt durch eine mögliche Fehlfunktion des Gehirns. Na danke.

Die Sache mit den Schlafstörungen ist viel brutaler: Das wird kalt lächelnd als vollkommen normal hingenommen - dabei kann hier über die psychosomatische Schiene später eine ernsthafte organische Erkrankung mit einer dauerhaften Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit daraus erwachsen. Diese Problematik ist aber nicht im Fokus unserer Gesellschaft.
Wir mögen vielleicht über die Siesta der Spanier lachen, müssen dann aber - vollkommen erschöpft - feststellen, dass die südlichen Kollegen die bessere Strategie fahren.

Gut, es ist kein großes Thema in den Medien. Ja, es betrifft eine große Bevölkerungsgruppe. Wir sollten sie ernst nehmen, wenn es Probleme gibt, aber andererseits auch nicht zu dem Thema aufbauschen, wo es nichts aufzubauschen gibt. Als nächstes sind dann die Diabetiker dran, und dann ...

Schaut euch mal in den Redaktionen, Studios und Verwaltungsräumen um: Wie viele Kolleg/inn/en sind anfallsgefährdet und tragen trotzdem keinen Sturzhelm? Wer kann ohne Hilfsmittel (ob pflanzlich oder leberschädigend) nicht entspannt einschlafen, wer schläft regelmäßig weniger als 5 Stunden?
Ihr würdet euch wundern: Alles klassische neuropsych-Klienten. Und nun? Ist die Nation weitgehend gestört und kann man daraus Schlüsse ziehen?

Also manchmal ... :rolleyes:
 
AW: Jeder dritte Europäer leidet an einer Störung des Gehirns

Man muss sich ja nur mal das Nachmittagsprogramm von RTL & Co. ansehen. Das reicht als Beweis aus. Dafür brauch ich keine Studie.
 
AW: Jeder dritte Europäer leidet an einer Störung des Gehirns

Leider hat Radiowaves höchstwahrscheinlich Recht. Viele Manien, Depressionen, Autismen und Psychosen, umgangssprachlich "Spleens" oder "Macken" werden ja gar nicht ernsthaft als "Störungen", die eine psychische Deformation darstellen, wahrgenommen sondern bestenfalls als schrullige Eigenwilligkeiten verharmlost (und akzeptiert). Dabei sind Menschen,mit denen man einen gelassenen, normalen, empathischen, uninszenierten Umgang pflegen kann so rar, dass man vielfach schon gar kein Bild mehr davon hat, was eigentlich "ganz normal" ist, weil wir uns schon an eine vollkommen neurotische Zivilgesellschaft gewöhnt haben.
Die Frage, "wie geht Radio damit um?" ist deshalb völlig falsch gestellt, weil sie unterstellt, beim Radio handele es sich um eine Institution die außerhalb dieses Befundes stehe und deshalb neutral, analysierend, aufklärend oder informierend damit umgehen könne. In Wahrheit aber ist Radio - jedenfalls bei uns in Deutschland - lediglich Indiz und Ausdruck dieses Zustandes, vielleicht sogar überrepräsentativ, weil es offensichtlich die besonders harten Fälle magnetisch in die Medien zieht, wo sie dann ihr Unwesen treiben.
 
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Nun sehe ich den Begriff 'Rundfunkanstalten' auch gleich mit ganz anderen Augen!
 
AW: Jeder dritte Europäer leidet an einer Störung des Gehirns

Vorab: Es ist nicht hilfreich, alles in einen Topf zu werfen, Neurosen (die in unterschiedlicher Ausprägung prinzipiell jeder hat) sind von Psychosen unbedingt zu unterscheiden. Wer einmal einen akut psychotischen Menschen erlebt hat, der weiß, wovon ich spreche. Bei diagnostizierten akuten Psychosen ist in der Regel eine medikamentöse Behandlung erforderlich, bei chronischen Psychosen ist in vielen Fällen ergänzend eine sozialpsychiatrische Versorgung (Tagesstrukturierende Maßnahmen und/oder BeWo) angezeigt, die entsprechenden Angebote sind in jeder größeren Stadt vorhanden.

Im Rundfunk kommt das Thema Psychose - gemessen an seiner Bedeutung - nicht sehr häufig vor. Oft wird nur in Zusammenhang mit forensischen Straftätern davon gesprochen, was von Betroffenen (in den meisten Fällen keineswegs allgemeingefährlich!) häufig als Diskriminierung empfunden wird.
WDR 5 hat immerhin vor einigen Monaten ein längeres Feature über die Geschichte der Nachkriegs-Psychiatrie gesendet - mit schockierenden Einblicken in jenen Bereich, der bei der "Entnazifizierung" offenbar schlichtweg vergessen wurde. Menschenwürdige Zustände sind eigentlich erst seit der Psychiatrie-Enquete und dem Entstehen der gemeindenahen Sozialpsychiatrischen Zentren üblich geworden.

Heutzutage gibt es in Fachwelt und Politik zwar ein Bewußtsein für Würde und Bedürfnisse des früher als "geisteskrank" verfemten Psychotikers, jedoch drohen nun dennoch Rückschritte in der menschenwürdigen Versorgung aufgrund von Einsparungen. Zudem ist die Öffentlichkeit wenig über Wesen, Ursachen und adäquaten Umgang mit der Krankheit informiert (was übrigens auch für Hausärzte gilt), so dass eine bessere journalistische Aufarbeitung der tabuisierten Thematik auch im Hörfunk mehr als wünschenswert wäre.
 
AW: Jeder dritte Europäer leidet an einer Störung des Gehirns

@stefan
du hast vollkommen recht. schizophrene psychosen und schwere depressionen, oder auch mischformen beider erkrankungen, müssten in den medien besser erklärt werden. es ist zum einen die schwere erkrankung, aber hinzu kommt häufig der verlust des sozialen status und damit finanzielle nöte. viele der erkrankten leiden zudem unter schweren nebenwirkungen, insbesondere ältere psychosepatienten leiden ofmals unter nicht mehr reparablen motorischen störungen, die den starken nebenwirkungen der alten neuroleptika geschuldet sind. über diese zusammenhänge wird kaum berichtet. selten sind auch die berichte darüber, wie in den psychiatrischen krankenhäusern gearbeitet wird. derjenige, den eine der genannten krankheiten plötzlich heimsucht, weiß in dem konkreten moment oftmals nicht, dass es die klassische irrenanstalt nicht mehr gibt. viele verschließen sich aus diesem grund einem angeratenen krankenhausaufenthalt und erfahren so nicht die optimale hilfe.

wann werden diese themen im radio einmal angesprochen?
 
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wann werden diese themen im radio einmal angesprochen?

U. a. bei "Domian", fast jede Nacht. Das schreibe ich ganz ohne Ironie, ich hatte selbst mal Depressionen (Gott sei Dank weitestgehend überstanden! Und auch nicht wegen des Radios.:D), ich weiß, wovon ich rede. Aber verständlicherweise werde ich hier keine weiteren Details erörtern.
 
AW: Jeder dritte Europäer leidet an einer Störung des Gehirns

@grün
trotzdem bist du mutig. denn eigentlich will darüber ja keiner öffentlich reden. noch immer wird stigmatisiert. die akut erkrankten haben eh nicht die möglichkeiten, sich zu wehren. umso wachsamer müssten die medien und auch das radio sein. doch das versagt fast auf ganzer linie.

mal zwei beispiele. seit jahresmitte zahlt die kasse nicht mehr für "cipralex". dieses mittel ist das nebenwirkungsärmste und zugleich stärkste antidpressivum auf dem deutschen markt, das sich gleichzeitig auch noch zur wirkungsvollen therapie von zwangserkrankungen eignet. beide erkrankungen kommen häufig parallel vor, da beide mit dem serotonin-haushalt im gehirn korrespondieren. "Cipralex" gehört zu den "selektiven serotonin wiederaufnahme hemmern". warum ist das im radio überhaupt kein thema. Depressionen sind schließlich die volkskrankheit nummer eins.

fall zwei: herr rösler hat in seiner damaligen eigenschaft als bundesgesundheitsminister ein gesetz initiiert, wonach seit jahreswechsel pharmafirmen therapiezentren betreiben dürfen. gerade hat ein schweizer hersteller mit der aok niedersachsen einen rahmenvertrag zur versorgung sämtlicher psychose-patienten abgeschlossen. ganz zufällig ist dieser schweizer pharmariese hersteller eines der gängigen neuroleptika (anti-psychose-mittel, das u.a. die dopamin-produktion im gehirn drosselt). seitdem rätseln nahmhafte psychiater und pharma-kenner öffentlich, wie ihre ärzte-kollegen in den neuen therapiezentren die medikamente in zukunft noch nach wissenschaftlichen kriterien auswählen können. patienten reagieren sehr unterschiedlich auf die verschiedenen neuroleptika. wieder mal war und ist davon im radio nichts zu hören. stattdessen mimt dieser rösler den netten fdp-boss - da kriege ich brechreiz.
 
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Das kritisiere ich auch. Das Thema Depression wird nicht nur in den Medien totgeschwiegen. Ich wäre wirklich dafür, wenn "Depression" auch gesellschaftlich mal als echte Krankheit anerkannt wird, sie wird gesellschaftlich doch immer noch eher als "Störung" beim Betroffenen empfunden. Dabei sind diese Leute bis auf diese "Störung" (ich schreibe das ganz bewusst) auf andere Bereiche bezogen doch völlig gesund. Darüber sollte ernsthaft mal nachgedacht werden. Auch die Politik sollte dieses Thema in Bezug auf Familien- und Arbeitsmarktpolitik im Bundestag öfters thematisieren, denn die Politik soll doch für die Gesellschaft "da" sein, und das ist ein gesellschaftliches Thema.
 
AW: Jeder dritte Europäer leidet an einer Störung des Gehirns

Dabei sind diese Leute bis auf diese "Störung" (ich schreibe das ganz bewusst) auf andere Bereiche bezogen doch völlig gesund
Ich weiß, wie Du das meinst. Aber ein schwer Depressiver läuft Gefahr, dass der Körper unter dieser Last weiteren Schaden nimmt. Und: Je nach Kombinationen mit psychotischem oder Zwangserleben steigt die Selbstmordrate von 15 auf 30 Prozent. Das sind alles simple Fakten, die endlich in den breiten Medien offen erklärt werden müssen. Dann sollten schon Schulklassen in der nächstgelegenen Klinik in ein Gespräch mit Betroffenen eintreten, damit sich endlich herumspricht: Die Irren- und Verwahranstalt ist seit 35 Jahren von durchschnittlich vier bis sechs Therapiewochen aus Pharmakotherapie und Psychotherapie abgelöst worden. Die weitaus meisten Menschen verlassen die Klinik wieder, auch wenn sie im Laufe ihres Lebens oft mehrfach neu medikamentös eingestellt werden und sind von der normalen Gesellschaft nicht mehr zu erkennen. Damit die Menschen endlich die Angst vor Psychiatrie und Klinik verlieren, um sich rechtzeitig helfen zu lassen. Warum tut das Radio hier nicht mehr?
 
AW: Jeder dritte Europäer leidet an einer Störung des Gehirns

Aber warum sollte man in der Gegend rumkrakelen, dass man volldepri ist. Ich stelle mich doch auch nicht auf den Marktplatz und gebe allen kund, dass ich schon wieder Hämorrhoiden habe.
 
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Zitat:

"Sollen wir von den Betroffenen erwarten, dass sie Pharmadrogen einnehmen, um genauso gut zu funktionieren wie alle anderen? Oder wäre es nicht doch endlich an der Zeit, diese Meldungen als Weckruf zu verstehen? Wäre es nicht naheliegend, die Lebensbedingungen zu hinterfragen? Wenn es mittlerweile nachweislich so viele Menschen sind, die den Druck, der auf ihnen lastet, nicht ertragen, wäre es nicht höchste Zeit, die Bedingungen wieder menschlicher zu gestalten?"

Da ist in der Tat was dran. Nur die Verteufelung der Psychiater im Artikel kann ich nicht nachvollziehen. Sind sie es doch, die an erster Stelle auf eine Veränderung der persönlichen Lebensumstände im Rahmen einer Therapie drängen. Und moderne Antidepressiva sind keine Pharmadrogen. Es gibt halt Menschen mit einer genetisch bedingten Schwäche, die auch bei kleineren Belastungen auftritt. Auch diesen Menschen muss geholfen werden. Da reicht eine Erholungspause nicht aus. Es wäre geradezu unmenschlich, diese Mittel als schnelle Korrektur und oft einzige Möglichkeit der Besserung nicht einzusetzen. Ich habe einfach zuviele Menschen erlebt, die psychisch am Boden lagen, da macht sich jemand, der nicht selber betroffen ist oder mit diesen Menschen zu tun hat, absolut kein Bild von.
 
In den Wort- und Kulturwellen finden sich in regelmäßigen Abständen Features. Warum erfährt aber die breite Öffentlichkeit auf den populären Wellen nicht, dass es heute keine Irrenhäuser mehr gibt? Vor wenigen Jahren spielte ein ARD-Krimi mit Ottfried Fischer in einer Klinik. Kein einziges Mal wurde der Ort als Krankenhaus bezeichnet. Stattdessen war - wie vor 60 Jahren - ausschließlich von Klapsmühle die Rede. Selbstverständlich wurde die Mutter Fischers, die mit dem Kriminalfall nichts zu tun hatte, bei einem Besuch der Klinik fälschlicherweise in einer Abteilung "gefangengenommen". Mal abgesehen von dem Schmarrn, den das Fernsehen für die Quote verzapft - wo bleibt die Aufklärung bei SWR 3 & Co? Jede Wette: Die überwiegende Mehrheit weiß nicht auch nur annähernd, was eine Schizophrenie ist. Und das, obwohl nach jüngsten Zahlen mindestens 25 Prozent aller Menschen - das topt keine andere Krankheit - im Laufe des Lebens von einer psychiatrischen Erkrankung betroffen sind! Wie würde bei vergleichbaren Krankheiten im Radio berichtet und erst recht im TV getalkt?!

Schizophrenie ist nicht, wie vor mehr als hundert Jahren gedacht wurde, eine Form der Demenz oder die selbst noch heute vielzitierte "gespaltene Persönlichkeit", sondern eine meist (einmal oder mehrfach) temporär begrenzt auftretende, fehlerhafte Informationsverarbeitung des Gehirns. Auf diese für den Patienten unerklärlichen Störungen reagiert er mit ("Erklärungs"-) Wahn. Das heisst er sucht die Erklärung für die auftretenden Phanömene bspw. in Übersinnlichem, glaubt etwa, wenn er besonders religiös ist, von Gott beeinflusst worden zu sein. Zu den Störungen gehören, dass das Gehirn auch Stimmen und Halluzinationen produziert. Einzig bis heute vorhandene, aber sehr wirksame Therapie bei einem akuten Krankheitsschubes: Medikamente, Neuroleptika, die den Botenstoff Dopamin im Gehirn drosseln. Chlorpromazin war Mitte der 50er Jahre das erste in Frankreich entdeckte Neuroleptikum. Seitdem leerten sich die Kliniken. Einst chronisch Kranke gingen nach Hause. Jeder, der wissen will, wie eine Psychose, so der Namen des akuten Zustandes eines Schubes sich anfühlt, sollte mal ordentlich LSD einwerfen (bzw. besser nicht!! Es gibt noch heute "alte" LSD-Opfer, die von ihren Trips nie mehr zurückgekehrt sind.). Diese Information kann man sogar in eine Minute packen.

Lesenswert in diesem Zusammenhang folgende Bücher, die ältesten, rund hundert Jahre alten zuerst:
Dr. Carl Pelman - Erinnerungen eines alten Irrenarztes
Nellie Bly - Zehn Tage im Irrenhaus
Hannah Green - Ich habe Dir nie einen Rosengarten versprochen
Dirk Blasius - Der verwaltete Wahnsinn
Heinz Häfner - Das Rätsel Schizophrenie (Das beste Buch zu dieser Krankheit, das es auf dem Markt gibt!)
Manfred Lütz - Irre! Wir behandeln die Falschen


Das unterstrichene Buch ist von einer Ex-Patientin in den 60ern verfasst, kursiv geschriebene Bücher sind von Ärzten.
 
AW: Warum klären die populären ARD-Wellen nicht über psychiatrische Krankheiten auf?

Ich denke, es wird dann getalkt und informiert, wenn es einen aktuellen Bezug dazu gibt, wie Depressionen im Mittelpunkt standen, als sich Robert Enke das Leben nahm oder - relativ aktuell - Burn Out durch den Rücktritt von Ralf Rangnick.

Würde sich eine Person des öffentlichen Lebens heute zu einer Schizophrenie bekennen, wären morgen die Talksendungen und Journale sicherlich voll davon. Bis die Welle wieder verebbt.
 
AW: Warum klären die populären ARD-Wellen nicht über psychiatrische Krankheiten auf?

Wieso muss sich erst jemand dazu bekennen? Oder muss sich erst ein Prominenter dazu bekennen, Herzprobleme zu haben, bis darüber berichtet werden kann??
 
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Weil es leider so ist, dass man vermutet (möglicherweise ist es auch so), dass es die "breite Öffentlichkeit" ohne einen besonderen Bezug nicht interessiert.

Ich möchte sogar behaupten, selbst wenn man heute so einen Beitrag (1 oder 2 Minuten) sendet und morgen die Hörer dieses Beitrags befragt, ist das Ergebnis nicht unbedingt befriedigend. Der gemeine Informationskonsument braucht meiner Meinung nach einen Anlass, um die Information aufzunehmen, zu verarbeiten und zu speichern. Er muss irgend einen Reiz erhalten, um aufmerksam zuzuhören und entsprechend gedanklich dabeizubleiben.
Steckt ein aktuelles medienwirksames Ereignis dahinter (ich bleibe bei meinen beiden o.g. Beispielen Enke und Rangnick) dann ist dieser Reiz vorhanden.
Oder ein naher Verwandter ist momentan in einer psychiatrischen Klinik. Auch dann ist der Reiz vorhanden... Ansonsten verpufft es.

Würde heute ein Beitrag über eine seltsame Kakteen-Art gesendet werden, vielleicht würde ich hinhören und auf irgendeinen Aha-Effekt warten... Ansonsten wird die Information morgen für mich nicht mehr abrufbar sein.

Das klingt jetzt relativ nüchtern, ich bin kein Medienwissenschaftler oder Mediziner. Aber ich denke so oder ähnlich würde es ablaufen.
 
AW: Warum klären die populären ARD-Wellen nicht über psychiatrische Krankheiten auf?

Einmal Mittwochs im Monat gibt es die Sendung Gesundheit heute auf NDR 1 Niedersachen. Dort werden verschieden Themenschwerpunkte angesprochen und Krankheitsbilder erläutert. Psychische Erkrankungen wurden glaube ich auch schonmal durchgenommen.
 
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