Warum gibt es keine Quotenbox fürs Radio?

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SH1977

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Warum begründet dich der Wert einer ganzen Branche auf so einer ungenauen, statistischen Erhebung wie der MA?
Ich finde alleine, dass ist schon Grund genug warum UKW ausstirbt (lang lang langfristig).
Der Erfolg lässt sich nicht messen.
Online sieht das Ganze schon wieder anders aus.

Was meint ihr?
 
Ich finde alleine, dass ist schon Grund genug, warum UKW ausstirbt (lang lang langfristig).

Das erschließt sich mir nicht, vor allem, weil derzeit nichts darauf hinweist, dass es so kommen wird.

Warum gibt es keine Quotenbox fürs Radio?

Weil die 60.000 CATI-Interviews anscheinend immer noch genau und günstig genug sind. In den USA und in der Schweiz werden ja die PPMs (passive people meters) und Mediawatch-Systeme verwendet, die die Umgebungsgeräusche aufzeichnen. Sicherlich wären die Zahlen noch genauer und man könnte angesichts einer minutengenauen Messung möglicherweise ganz neue Erkentnisse über den Radiokonsum gewinnen. Andererseits ist eine tagesaktuelle Messung nicht unbedingt notwendig, denn im Programmschema tut sich bei den meisten Radiosendern ohnehin recht wenig.

Das PPM-System hat durchaus seine Tücken, um hier mal auf ein paar Dinge einzugehen:

1. Das Gerät muss bewegt und getragen (außen an der Kleidung befestigt) werden, damit eine Messung stattfindet (es gibt genügend Jobs, bei denen das Tragen eines solchen Gerätes nicht praktikabel ist).

2. Der Proband muss daran denken, dass Gerät nachts einzudocken, damit die Daten gesendet werden.

3. Die Messung greift stark in den Lebensalltag der Probanden ein (das Gerät muss jeden Tag mindestens acht Stunden aktiv sein) – jeder, der schon mal regelmäßiger Teilnehmer an einer solchen Mafo-Studie war, weiß, wie lästig und wie ungenau die Messungen mit der Zeit werden. Einige Probanden hängen ihre Geräte einfach an einen Ventilator und Mütter tragen die Geräte ihrer Kinder, damit sie die Belohnung (bis zu $ 1000 pro Monat!) für die Teilnahme erhalten. In Großbritannien verabschiedete man sich von der Methodik: "Ultimately, we had to concede that the methodology was measuring people’s interaction with the methodology itself, and not with the media we were supposed to be measuring."

Dieser Blogbeitrag fasst es gut zusammen:

Panelists want the money but not the hassles. If you can keep Arbitron off your back and keep the money coming by just letting the dog wear the meter, wouldn’t you?
People can be panelists for years. Even if one begins a faithful and honest participant, interest is going to wain--which is why if you whine, Arbitron will start paying you even more money.
If all you have to do is pull the meter out of the charger some time in the morning, let the baby play with the thing all day, and then dock it again in the evening, why would you wear the thing, let alone make the whole family strap it on all day?
4. Mit einem PPM wird nicht aufgezeichnet, ob ein Hörer bloß in Kontakt mit einer Audioquelle gekommen ist oder ob er sie auch tatsächlich bewusst gehört hat. In den USA war zu beobachten, dass in vielen Märkten nach der Einführung von PPM die Hörerzahlen gestiegen sind. Hey, das ist ja wie bei der MA: Es gibt nur Gewinner!

5. Auch bei der PPM-Messung sind weiterhin kurzfristige Ausschläge nach unten und nach oben möglich, Trends lassen sich auch bei Arbitron erst nach vielen Erhebungswellen feststellen und können sich auch dort ebenso schnell verflüchtigen wie wir das bei der deutschen Radio-MA kennen. Die PPM-Messungen sind mitnichten zuverlässiger als die Tagebucheinträge, die vor allem in kleineren Märkten auch heute noch durchgeführt werden (Beitrag hier):

You may recall that one selling point of PPM was that monthly PPM reports were more stable than diary quarterly reports, so we thought it would be interesting to compare the two.


We looked at a quarterly diary-based share data-set with 420 12+ full week trends published by the trades.

Quarterly diary trends reverse 77.8% of the time compared to PPM’s monthly 79.8% reversal. In other words, trend flip-flops are about the same in PPM and diary.

[...]

Flipping a coin turns out to be directionally more predictive than looking at this month’s trend.

Share estimates always have two components. The first is the actual number, the share you would find if you could ask everybody what they were listening to, instead of just a small number of panelists.

The second component is statistical noise. It is interference like static drowning out the signal from a distant AM station.

The noise is completely random and unpredictable. Sometimes it adds to the actual share, inflating it. Sometimes it subtracts from the actual share, deflating it.

Both monthly PPM share estimates and quarterly diary share estimates have so much statistical noise in them that it drowns out genuine changes in month to month ratings.


Ich denke, das sollten Gründe genug sein, warum diese passive Erhebungsmethode in Deutschland nicht eingeführt wird.
 
Sicher hat auch die PPM-Messung ihre Schwächen, doch liefert sie zumindest objektivierbare Daten, die man nicht ohne weiteres manipulieren kann. Die PPM-Methode war als Versuch einer möglichst exakten Datenerhebung konzipiert, die möglichst wirklichkeitsnahe Zahlen liefern soll und wurde anfangs zu Verifikationszwecken ergänzend zur ohnehin schon sehr aussagekräftigen Tagebuchmethode eingesetzt. Alle Erfahrungen lehren, dass die tägliche Nutzungsdauer bei den PPM-Erhebungen gegenüber der Diary-Methode erheblich sank, was ein wesentlicher Grund dafür sein dürfte, weshalb sich die deutschen Radiogesellschafter nicht so recht dafür erwärmen können. Die Marktanteile glichen sich aber bei beiden Verfahren so stark, dass man nach und nach zur PPM-Methode überging.

In Deutschland hält man lieber an einem mängelbehafteten System fest, obwohl man z.B. genausogut die Diary-Methode einsetzen könnte, die sich an streng soziologischen Vorauswahlkriterien orientiert. Doch die Radiowerbung scheint für die Wirtschaft nicht mehr wichtig genug zu sein, um eine stringente Methode mit einem wirklich nachvollziehbaren Prozedere einzufordern. Die Markenartikler verteilen ihr Werbebudget vor allem auf die wenigen reichweitenstarken Sender, die schon aufgrund ihrer technischen Verfügbarkeit "unentrinnbar" sind. Die weitere Aufteilung des Werbekuchens ist letztlich eine Domäne der Mediaagenturen, sodass kaum noch ein Außenstehender nach der Relevanz der MA-Ergebnisse fragen wird.
 
Richtig, die Hördauer ging in den USA um 30 % in den Keller, wobei Arbitron selbst darauf hinweist, dass sich nur die Erhebungsmethode geändert habe, nicht jedoch die tatsächliche Hördauer. Arbitron tut so, als ob PPM und Tagebüchern verschiedene Einheiten wären, die aber die gleiche Nutzung ausdrücken, d. h. 70 Meter Rating Points sind ebenso viel wert wie 100 Diary Rating Points. Dazu gibt es von Arbitron für jeden PPM-Markt umständliche Konvertierungstabellen, zusammen mit diesem schönen Hinweis: "PPM ratings are based on audience estimates and are the opinion of Arbitron and should not be relied on for precise accuracy or precise representativeness of a demographic or radio market.". Daraus schließe ich, dass die PPM-Methode auch nicht akkurater ist als die aktive Abfrage über Tagebücher oder Telefoninterviews. Es wundert mich auch nicht, dass die Hördauer nachlässt, wenn man das Gerät die ganze Zeit mit sich herumtragen muss. Das wird niemand machen und erklärt auch, warum die TSL-Zahlen derart fallen (TSL = time spent listening). Das pagerähnliche PPM aus den USA ist echt unpraktisch, da ist die Armbanduhr in der Schweiz schon besser. Generell frage ich mich bei den passiven Messgeräten auch, ob die Identifizierung der Stationen vs. andere Audioquellen wirklich funktioniert und wie man vom Gerät wahrgenommene Audioquellen von bewusstem Zuhören trennen will. Laut der RAJAR (der Verband, der in Großbritannien für die Nutzungserfassung zuständig ist) konnten die PPM gerade einmal 59 % der Audioquellen zuordnen.
Das PPM-System kann man selbstverständlich bestens manipulieren, sofern man Menschen mit einem solchen Gerät kennt und sie ausreichend für die Nutzung eines bestimmten Senders belohnt. So etwas ist bei den zufällig ausgewählten Probanden in der CATI-Befragung nicht möglich.

Es stimmt zwar, dass man eine bessere Vorauswahl treffen kann, aber wenn man bei der Tagebuchmethode dann ein Panel hat, führt das letztlich auch zu Ungenauigkeiten bei der Erfassung. Die Leute füllen diese Fragebögen auf Dauer einfach nicht sorgfältig aus, vor allem nicht hier in Deutschland, wo die Mafo-Institute eher knauserig mit ihren Prämien sind. Nun könnte man den Erhebungszeitraum begrenzen, aber dann haben wir immer noch das gleiche Spiel wie bei den jetzigen MA-Erhebungswellen, in denen die Radiosender dann ihre Major Promotions fahren. Oder wir tauschen die Panel-Teilnehmer regelmäßig aus, aber dann hätten wir wieder das gleiche Problem wie bei der CATI-Befragung, bei der die Teilnehmer ja auch jedes Mal neu ausgewählt werden. Letztlich ist die Tagebuchmethode auch mit einem gewissen Aufwand verbunden, insbesondere bei der Auswertung und ggf. durch Stichproben mit einem Interviewer. Die CATI-Befragung wurde auch nicht ohne Grund ausgewählt und sicherlich wird man diese auch einmal auf den Prüfstand stellen müssen (angesichts der geringen Anzahl an Nur-Mobilfunk-Haushalten in Deutschland ist das aber _noch_ kein dringendes Problem). Um mal eben aus den Gründen zur Umstellung von Face-to-Face- auf CATI-Befragungen zu zitieren:

Den Ausgangspunkt bildete ein Methodentest im Jahr 1995, in dem acht verschiedene Modellvarianten getestet wurden. Neben fünf Face-to-Face- und zwei Tagebuchvarianten wurde auf Initiative der ARD-Hörfunkforscher erstmalig CATI als Befragungsoption einbezogen. Insgesamt legte der Test nahe, dass die Analyse auf der Basis persönlich-mündlicher Interviews trotz ihrer hohen methodischen Qualität die mobileren Hörfunknutzungsvorgänge (außer Haus wie z.B. im Auto) auf einem niedrigen Niveau abbildet, insgesamt die Radionutzung also unterschätzt. Die Angaben der im CATI-lnterview im Test erfassten Hörer fielen demgegenüber insgesamt reichhaltiger aus.

Ein zentrales Ergebnis in der Folge des CATI-Tests lautete: An einem durchschnittlichen Tag hören etwas weniger Personen Radio als aus der MA bekannt, diese hören aber mehr Sender, haben eine längere Verweildauer, und die Varianz der Angaben im Tagesablaufschema ist vielfältiger. Auf Basis dieser Erkenntnisse und eines mehrjährigen Diskussionsprozesses beschlossen die ag.ma-Gremien schließlich den Umstieg der Radio-MA auf die CATI-Erhebungstechnik.

(...)

Die CATI-Technik erlaubt eine deutlich stärkere regionale Streuung der Interviews (Telefonstichprobe versus Interviewereinsatz vor Ort). Dies wurde außer zur Präzisierung der regionalen Abbildung zur Vereinfachung der Befragung genutzt. Aus zuvor 51 Splitvarianten in der MA 1999 (mit jeweils mehr abgefragten Radioprogrammen) wurden in der MA 2000 insgesamt 111 Splitgebiete (entspricht 111 unterschiedlichen Befragungsgebieten).

Es kann gut sein, dass man in ein paar Jahren auf die Tagebuch- oder (ich hoffe nicht) Online-Befragung umsteigen wird. Alle Erhebungsmethoden haben ihre Vor- und Nachteile und wenn man diese kennt, dann ist man auch in der Lage, die Zahlen mit der gegebenen Vorsicht zu analysieren und zu interpretieren. Ein Wechsel der Erhebungsmethode wird an den grundsätzlichen Ergebnissen nichts ändern, auch wenn manche hier meinen, das gesamte Formatradio-System in Deutschland wird allein durch die MA Radio noch am Leben erhalten. Nein, auch mit der Tagebuchmethode oder den passiven Messgeräten werden FluxFM und Deutschlandfunk keine Marktführer und ebenso werden die Deutschen nicht urplötzlich auf obskure Internet-Streams umspringen, sondern weiter den etablierten Radiomarken treu bleiben.
 
So isses, haargenau beschrieben.

Ein Wechsel der Erhebungsmethode wird an den grundsätzlichen Ergebnissen nichts ändern, auch wenn manche hier meinen, das gesamte Formatradio-System in Deutschland wird allein durch die MA Radio noch am Leben erhalten. Nein, auch mit der Tagebuchmethode oder den passiven Messgeräten werden FluxFM und Deutschlandfunk keine Marktführer und ebenso werden die Deutschen nicht urplötzlich auf obskure Internet-Streams umspringen, sondern weiter den etablierten Radiomarken treu bleiben.

Und dies ganz besonders dick unterstrichen!
 
An den Kräfteverhältnissen zwischen den einzelnen Sendern wird sich sicher wenig ändern, möglicherweise - ja nach Inhalt der Abfrage - werden aber bestimmte Interpretationen ("wir sind spitze, alle lieben uns") nicht mehr so leicht möglich sein, wenn Hörer die Möglichkeit hätten, inhaltlich zu differenzieren.
Im Übrigen empfinde ich den Verweis auf die technischen und operativen Schwierigkeiten einer Quotenbox-Erhebung als eine hochwillkommene Ausrede der Branche ("ist alles viel zu kompliziert"), um bei der manipulativen und schönfärberischen MA bleiben zu können.
 
Bemerkenswert ist nur das Rundfunkangebot, insbesondere das öffentlich-rechtliche, in der Schweiz verglichen zum deutschen … Und es soll bitte keiner erzählen, dass das nicht zumindest teilweise auf die Erhebungsmethode der Quoten zurückzuführen ist.
 
An den Kräfteverhältnissen zwischen den einzelnen Sendern wird sich sicher wenig ändern, möglicherweise - ja nach Inhalt der Abfrage - werden aber bestimmte Interpretationen ("wir sind spitze, alle lieben uns") nicht mehr so leicht möglich sein, wenn Hörer die Möglichkeit hätten, inhaltlich zu differenzieren.

Diese Art der Interpretationen finden ja ohnehin nur in den PR-Abteilungen der jeweiligen Sender statt und haben mit der Realität wenig zu tun. Eine inhaltliche Differenzierung durch den Hörer wäre bei einem PPM noch viel weniger möglich als bei einer aktiven Abfrage. Dann doch lieber die Tagebuchmethode.

Im Übrigen empfinde ich den Verweis auf die technischen und operativen Schwierigkeiten einer Quotenbox-Erhebung als eine hochwillkommene Ausrede der Branche, um bei der manipulativen und schönfärberischen MA bleiben zu können.

Sie sollen also auf ein System, das nur 60 % der tatsächlichen Radionutzung aufzeichnet, umsteigen und dafür – höchstwahrscheinlich – auch noch mehr bezahlen!? Das ergibt keinen Sinn.
 
Vor allem würde die Diary-Methode endlich eine saubere Ermittlung der Marktanteile ermöglichen, wie man das vom Fernsehen her gewohnt ist. Ein unschätzbarer Vorteil, der in Werbekreisen Vertrauen schafft. Die Reichweitenermittlung allein ist, sofern sie halbwegs glaubwürdig über die Bühne geht, nur eine untergeordnete Größe (im Arbitron-Jargon spricht man von "Cume", was soviel heißt wie "cumulative audience", zu deutsch "maximal erreichbare Nutzerschaft").

In Wahrheit interessiert die Werbetreibenden die Intensität der Nutzung eines Hörfunkprogramms und die damit einhergehenden Werbeeffekte (steter Tropfen höhlt den Stein), und die lässt sich mit den Mitteln der Media-Analyse nun mal nicht effizient darstellen. Im Gegenteil: Die Media-Analyse hat nicht die geeigneten Werkzeuge, um verlässliche Marktanteile auszuweisen.

Die Loyalität der Hörerschaft ist vielleicht eine der wesentlichsten Konstanten im Radiogeschäft, und da die deutsche Radiowirtschaft keine nennenswerte Zielgruppendifferenzierung vornimmt, wurde das Radio zum Verlegenheitsmedium ohne verlässliche Anhängerschaft degradiert. Dem gilt es entgegenzuwirken, denn das wenig erfolgsträchtige Zielgruppen-Kompensationsgeschäft hat keine große Zukunft mehr.
 
Ach. Das hatten wir schon mal diskutiert und abgelehnt, oder?

Es geht aber nichts über das mobile Quotenbox-Implantat vom Weltmarktführer Ricco&Söhne aus Niederbayern:
Einmal unter der Haut wird alles registriert, notfalls per automatisch ausgelöstem Bandscan und Stimmerkennung.
Datenübertragung problemlos per bluetooth, das Gerät kann auch aus größerer Distanz abgefragt werden.
:cool:

:D
 
In Wahrheit interessiert die Werbetreibenden die Intensität der Nutzung eines Hörfunkprogramms und die damit einhergehenden Werbeeffekte

Und die wird auch mit den PPM oder der Face-to-Face- bzw. Tagebuchmethode nicht besser abgebildet. Bei den CATI-Interviews werden meines Wissens die Begleitaktivitäten beim Radiohören abgefragt, das findet bei den PPM nicht statt. Zumindest ist mir nicht klar, wie das besser funktionieren soll, als bei der CATI-Befragung. Roger Schawinski hat in seinem Buch "Die TV-Falle" zur Intensität der Fernsehnutzung was sehr Interessantes geschrieben zum Unterschied zwischen "akustisch-visueller Wahrnehmung" vs. "mentaler Wahrnehmung":

Unsere üblichen Messmethoden liefern uns pausenlos detaillierte Daten über alles, was uns zu interessieren hat: Wir erfahren, wer wann zuschaut. Das ergibt die Quote, wie sie publiziert wird. Wir wissen aber auch alles über Alter, Geschlecht, Berufsgattung, Schulbildung, Zugehörigkeit zu einer soziologischen Gruppe und Einkommen unserer Zuschauer. (...) Nur etwas ist nicht bekannt: Wie schauen sich die Zuschauer unsere Sendungen an?

Im Gegensatz zu den elektronisch erfassten objektiven Daten, welche die GfK erhebt, muss man bei dieser Fragestellung einen ganz anderen Weg gehen. Hier gibt es eigentlich nur die Möglichkeit der direkten Beobachtung mittels einer Videokamera, die für einmal auf die Adressaten und nicht die Absender von Fernsehen gerichtet wird. (...)

Für dieses Projekt suchte das Forschungsinstitut Personen, die sich selbst als Stammzuschauer von Sat.1 bezeichnen und ihren Fernseher vier Stunden und mehr pro Tag eingeschaltet haben. Diese Leute mussten bereit sein, sich für einen Eingriff in ihre Privatsphäre zu öffnen. Natürlich handelt es sich dabei bloß um eine Annäherung an die reale Situation des Fernsehkonsums, denn die Präsenz von Drittpersonen in der eigenen Wohnung, zumal hinter einer laufenden Kamera, dürfte das übliche Verhalten beeinflussen. (...)

Die Bilder, die wir dann trotz diesen Einschränkungen vorgeführt bekamen, waren für mich schockierend, beinahe brutal. Zum ersten Mal sahen wir das Objekt unserer Begierde – den Zuschauer – dem unser ganzes Denken und Wirken gehört, in Fleisch und Blut, wie er sich konkret mit unserem Programm auseinandersetzt. (...) Die nun erlebte und wahrscheinlich noch geschönte Realität konfrontierte uns mit Bildern, die in ihrer Direktheit und Ungeschminktheit selbst den letzten Rest von Glamour zerstörten, mit der wir unsre von uns selbst als so bedeutend eingestufte Tätigkeit gerne umfloren. Zwar war uns allen bweusst, dass Fernsehen vorwiegend als Flüchtigkeitsmedium wahrgenommen wrid, schließlich sind wir Fernsehmacher auch Fernsehkonsumenten. Die Konfrontation mit unserer wichtigsten Zielgruppe traf uns in ihrer Radikalität dann doch völlig unvorbereitet.

Eine Szene: Eine Familie sitzt am Tisch in der Wohnstube und isst. Im Hintergrund läuft halblaut der Fernseher. Hie und da blickt jemand zum Bild, manchmal wird das Programm kurz kommentiert oder es wird gelacht. Alles verläuft parallel. Offensichtlich ist dies eine Form des Lebens, die man bewusst gewählt hat. Es ist die Normalität. Dann klingelt es an der Tür. Besuch kommt. Der Fernseher läuft weiter, ohne dass dies von jemandem als störend empfunden wird. Dann wird von jemandem kurz etwas über die laufende Sendung gesagt, dann geht das Gespräch zurück zu persönlichen Belangen. Und so vergeht die Zeit, einige Sekunden Aufmerksamkeit für eine Sequenz im Fernsehen, dann wird wieder miteinander geredet. Das ist das Prinzip, von Morgen bis am Abend.

Eine zweite Szene: Die Mutter in Joggingkleidung hat sich mit ihrem etwa zehnjährigen Sohn aufs Sofa gefläzt. Der Fernseher läuft. Gemeinsam sehen sie ein Programm, doch gleichzeitig gibt es eine andere Form der Kommunikation. Die Mutter versucht, mit ihrem Sohn körperlichen Kontakt aufzunehmen. Sie nutzt diese Situation der Ablenkung durch den Fernseher, um ihre mütterlichen Bedürfnisse abzudecken. Der Sohn weist diese Versuche mit Bewegungen immer wieder ab. erst als ihn eine Szene besonders zu faszinieren scheint, gelingt es seiner Mutter, seine Hand länger als nur einige Sekunden halten zu können.

Oder: Mann und Frau im Zimmer. Der Fernseher ist eingeschaltet, an der gegenüberliegenden Wand auch ein eingeschalteter Computer, vor dem der Mann sitzt. Während sich die Frau dem Fernsehprogramm widmet, wandert der Blick des Mannes ständig zwischen den beiden Geräten hin und her.



Vor allem würde die Diary-Methode endlich eine saubere Ermittlung der Marktanteile ermöglichen

Ist das so? Warum? Die Diary-Methode basiert auch nur auf den Erinnerungen der Befragten, es werden ebenfalls 15-minütige Zeitabschnitte abgefragt. Und dadurch, dass der Interviewer bei ungenauen Angaben nicht sofort nachhaken kann, werden doch die Ergebnisse eher ungenauer.
 
Ja, aber bei der MA wird lediglich auf ein kurzes Zeitintervall Bezug genommen und auch hier wird nur auf das Gedächtnisprotokoll zurückgegriffen, die tatsächliche langfristige Radionutzung kann so nicht abgebildet werden.
 
@TS2010

Vielen Dank für das erfrischende Zitat. Die zusammenfassende Analyse darf (möglicherweise potenziert) ganz sicher auch für die Radionutzer gelten:

Die Bilder, die wir dann trotz diesen Einschränkungen vorgeführt bekamen, waren für mich schockierend, beinahe brutal. Zum ersten Mal sahen wir das Objekt unserer Begierde – den Zuschauer – dem unser ganzes Denken und Wirken gehört, in Fleisch und Blut, wie er sich konkret mit unserem Programm auseinandersetzt. (...) Die nun erlebte und wahrscheinlich noch geschönte Realität konfrontierte uns mit Bildern, die in ihrer Direktheit und Ungeschminktheit selbst den letzten Rest von Glamour zerstörten, mit der wir unsre von uns selbst als so bedeutend eingestufte Tätigkeit gerne umfloren. Zwar war uns allen bweusst, dass Fernsehen vorwiegend als Flüchtigkeitsmedium wahrgenommen wrid, schließlich sind wir Fernsehmacher auch Fernsehkonsumenten. Die Konfrontation mit unserer wichtigsten Zielgruppe traf uns in ihrer Radikalität dann doch völlig unvorbereitet.

Aber, jetzt kommt`s: Will das wirklich jemand von den Betroffenen (Programmgestaltern, Geschäftsführern, Werbetreibenden) wissen? Und will er es gar veröffentlicht sehen? Warum auch? Es würde doch nur eine schön gebastelte Scheinwelt zerstören. Also bleiben wir bei der MA, in die man alles und auch das Gegenteil davon hineininterpretieren kann, - wie es uns ja auch zweimal im Jahr professionell vorexerziert wird.
 
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