Heute ist bei mir Hardcore-Radio-Tag. Habe ein Hubmessgerät hier und fresse mich mit Stunden-Messungen durchs hiesige Kabelnetz. Das dauert. Unterm Tisch hängt mein Kopfhörer, aus dem leise das derzeit empfangene Programm dringt. Manchmal nehme ich den Kopfhörer hoch und höre mal kurz rein. Dann setze ich ihn angewidert schnell wieder ab.
Vorhin warf Mike Posner auf MDR Junk tatsächlich wieder die Pille ein und ansonsten gab es identisch klingende Lala-Musi in schlichtester Spieldosen-Art und irgendwer wimmerte von irgendwas, das seine Mutter zu ihm gesagt hat, als er 7 Jahre alt war. Dazu schauderhaft klebrig-anbiedernde Doppelmoderationen über nichts, bei denen mir jede Sekunde Lebenszeit zu schade ist.
Dann war ich bei MDR Stupid. Da sang jemand was von "wie ein Hulahulahu, wie ein Hulahulahu", danach Schunkel-Musi, die exakt genauso auf MDR Junk laufen könnte und es vermutlich auch tut. Der Unterschied zwischen beiden Programmen erschließt sich mir noch nicht, denn bislang ists nicht mehr als das etwas dynamischer gerufene "Hi!" der Ansagerin. Relevanter Inhalt? Nö. Um diese Zeit ("zwischen 14 und 16") gab es einst auf DT64 das "Schülermagazin "Lockruf", in dem z.B. - damals für die Ossis was neues, das man auch erstmal als Freiheit und (Grund)wert entdecken mußte - berichtet wurde, daß es Wehrdienstverweigerung gibt und was man dafür tun muß, um anerkannt zu werden. Oder es waren Schüler und junge Studenten zu Gast (heute ist nämlich Freitag, da kam die "Klassenfete"), unterhielten sich mit Frank Aischmann oder Ralf Bieniek über Mathe-Leistungsgruppen, "Mathelager" in den Ferien und brachten ihre eigene Musikauswahl mit (gehört im November 1991 beispielsweise Röövel Ööbik aus dem Baltikum mit "The history of the USSR" oder Frank Sidebottom mit einer schrägen Dub-Polka-Adaption.
Zurück im Jahre 2016 ploppt die Ansagerin auf MDR Stupid dann irgendwas über die nächsten 3 gleichklingenden Lala-Standardtitel ins Zahnputzbecher-RE20-Mikrofon und überdrehte Stimmen rückverkaufen das Elend am Morgen, in dem sich die Aufmerksamkeit wohl darum drehte, am Telefon so zu klingen, wie als wäre man weit weg im Urlaub. Dann Nachrichtenschlagzeile Nummer Eins wortwörtlich: "Schweini hört auf".
Fazit für mich nach diesem Ausflug in die Niederungen des öffentlich-rechtlichen Popfunks: komplett wertlos. Soundtrack nach dem Motto "ich bin dumm und habe Spaß dabei". Bereits 1995 war im SPIEGEL in einem Artikel von Jurek Becker ("Die Worte verschwinden") ein Foto eines Jugendradio-Studios (es war N-Joy) mit "Athmosphäre der Dumpfheit" untertitelt. Ist heute nicht anders, trifft immer noch zu.
Es ist eine Schande, daß dafür Rundfunkgebühren verbrannt werden. Das Geld sollte man lieber in die Versorgung von Flüchtlingen stecken, da würde es einem guten Zweck dienen. Jede Sekunde dieser öffentlich-rechtlichen Ätherverpestung hingegen ist nichtmal nur sinnlos verbranntes Geld, sondern sogar schädlich. Wer so etwas als offenbar gesellschaftlich anerkannten Standard vorgesetzt bekommt, aus dem kann doch kaum ein problembewußter, anständiger Mensch werden. Wenn dann die als gesellschaftliches Normal suggerierte Dauer-Spaßparty mal von der Realität dieser Welt (z.B. von Naturgesetzen, von Krisen, Kriegen und anderen Ergebnissen des Versäumens individueller seelischer "Hygiene") unterbrochen wird, motzen die Leute dann und wollen, daß die Störung ihrer Party aufhöre. So wirds nichts mit der Welt, wirklich nicht.
Es ist auch immer gefährlich: je älter man wird, desto eher tut man eine neue Musikrichtung als einen Abklatsch von etwas ab, das es ja früher schon gab.
Bin mir zumindest spontan nicht bewußt, daß es bei mir so wäre. Auch meine Ansprüche wechsel(t)en mit der Zeit und manches Genre, das ich vor 20 Jahren gerne häufiger hörte, taugt heute nur noch als zeitgeschichtliches Dokument oder fürs Kuriositätenkabinett. Mit Punk (dem echten aus DDR-Kellern, z.B. zu finden auf den "Sicher gibt es bessere Zeiten, doch diese war die unsere"-Samplern) geht es mir so. Im Rahmen einer Sendung zur Zeitgeschichte würde ichs noch aus dem Regal holen. Anderes von damals[tm] nehme ich heute als "hatte gesunde Aussage und ist deshalb sogar etwas wertvoll" wahr (einiges von Midnight Oil beispielsweise).
Heutige Musik lehne ich nicht ab, weil sie mich an irgendwas von früher erinnert (vielleicht gäbe es, wenns so wäre, etwas mehr heutige Musik, die ich ertragen würde). Ich lehne sie ab, weil sie langweilig, schlichtmöglichst arrangiert ist (diese ganzen Electropop-Nummern aus dem heutigen Radio-Airplay basieren alle auf dem gleichen bum-bum-bum-Rhythmus mit nur wenigen, sich ständig wiederholenden Tönen), weil die Stimmen entweder von Natur aus eklig sind (Frauenstimmen kommen heute z.B. nur noch vor, wenn in höchsten Tönen gequäkt, geqietscht, genölt oder gejammert wird) oder weil die Stimmen eklig verfremdet sind - und weil die Texte schauderhaft sinnfrei oder ethisch "krank" sind.
Klar gibt es auch andere Musik (FM 4 beweist es, der Nachtmix auf Bayern 2 beweist es auch, Paul Baskerville auf NDR Info beweist es) - aber das findet auf deutschen Jugendwellen nicht statt, die "Anfütterung" an gesündere Kost erfolgt also gar nicht. Ich hielte sie für eine ureigenste Aufgabe der Öffentlich-Rechtlichen.
Eigentlich hätte man heute eine stilistische Vielfalt wie noch nie. Aber gerade das führt scheinbar zu einer Art Einheitsgeschmack.
Doch nur scheinbar. Verläßt man das Thema "ARD-Jugendwellen" und schaut sich ungefiltert in der musikkulturellen Welt um, ist so viel da. Bezogen aufs Thema Jugendfunk ist fast nichts da außer tatsächlich diesem drögen Dauerparty-Ballermann-Bumbum, das wohl wirklich nur mit einer Pille zu ertragen ist.
Für Jugend also Rap&CO und als Anrede "hey Du!" - "boah Geil", für Senioren eher Oldie- und Schlagerzeugs und ein getragenes "Liebe Hörerinnen und Hörer", in den Altersklassen dazwischen die diversen Ausformungen von "bester Mix von gestern und heute", bisschen Sport, bisschen Yellow-Press, bisschen Politik (aber nur, wenn man nicht viel erklären muss).
Genau das hat Forenkollege
@Grenzwelle vor Jahren schon unerreicht präzise formuliert:
you fm: Ich mach voll den Krawall, ey!
hr3: Ich würd ja gern wieder mal Krawall machen.
hr1: Ach, wie schön war das damals, als ich soo viel Krawall gemacht habe. Und jetzt kommt Rod Stewart.
Ein Programm für alle? Undenkbar! Dabei wäre es die Lösung. Aber den Mut hat keiner.
Das halte ich nun in dieser Radikalität doch für etwas, das sehr, sehr mutig wäre. Aber (für den Anfang?) ein Programm, das junge Menschen nicht für blöd erklärt oder voraussetzt und "ballaststoff-reich" ist, das würde doch auch schon eine Sensation sein heute. (Nein, bitte kommt mir jetzt nicht mit DWissen, der Nischenlösung für Studenten, die sich für intellektuell halten und dafür eine Monstranz brauchen - "es ist kompliziert, dazu guter Pop").
In den späteren 90ern und 2000ern aber zog man zunächst den Jugendwellen nach und nach die Zähne
Und zwar durchaus wortwörtlich. Vgl. bitte
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/thumb/8/84/Radio_Fritz.svg/307px-Radio_Fritz.svg.png
mit
http://presseservice.rbb-online.de/...d/logos_sendungen/fritz_logo_2006_512_288.jpg
Heute lässt sich ein Großteil der Verkaufslisten-Musik ohne Probleme auf sämtlichen Wellen abspielen.
Genau das ist extrem zu bemerken. Es gibt bei den Öffis und bei den Privaten große Überschneidungen zwischen den Jugendwellen und den Popwellen.
Was ist meine Schlussfolgerung? Für den Mainstream reicht eine Welle völlig aus. Der Rest lässt sich besser über Spartensender und/oder Sendungen definieren.
So, die Stunde MDR Stupid ist im Kasten, MPX-Leistung bei uns im Kabelnetz max. -1,2 dBr, Spitzenhub um 42 kHz - also plattgepreßt bis an den Anschlag. Weiter gehts mit MDR Aktuell, wenigstens ohne dieses Gewimmer, dafür werde ich wohl nun eine Stunde globale Krankheit serviert bekommen. Dafür kann MDR Aktuell aber immerhin nichts.
Es wird immer und überall auf hippes Allerweltsradio gemacht und Schönwetter verkündet. Ernsthafte Themen und ernst zunehmende Musik finden immer seltener bis gar nicht statt.
Und das ist die große Gefahr: die Konditionierung weg von einer Weltverbundenheit im wortwörtlichen Sinne hin zu einer Realitätsferne, die, wenn sie wegbricht, zu gefährlichen Reaktionen führen kann. Ich erlebe im ganz "normalen" Mainstream-Umfeld derzeit als dominierendes Gefühl Panik und als Konsequenz daraus zunehmend auch bei etlichen von denen, die eigentlich von der Kinderstube her dafür weniger anfällig sein sollten, Neigung zu Rassismus, nationalismus und ganz generell Anfälligkeit für die Idee, es gäbe Menschen mit unterschiedlichem Wert. In den weltverbundenen Kreisen erlebe ich hingegen als Reaktionen Schmerz (klar, wer verbunden ist mit der Welt, muß diesen Schmerz fühlen), aber auch Klarheit, Entschlossenheit und z.B. sowas:
http://gen-europe.org/projects/refugen/index.htm