AW: Media-Analyse 2010 Radio I: Reaktionen und Meinungen
Lieber Bremen 1 in Hessen,
es ist wirklich schön für Dich (und das meine ich ernst), wenn Du mit Deinem Lebensweg und Deinen geistigen, kulturellen und sonstigen Ansprüchen in diesem Land offenbar noch halbwegs unfallfrei durchkommst. Ich komme es nicht (mehr), schon lange nicht mehr. Dabei haben sich meine Ansprüche, soweit ich das überhaupt halbwegs einschätzen kann, nicht wesentlich geändert, seit ich vielleicht so 16, 17 war. Seit ich auch kulturell auf eigenen Füßen stand und nicht mehr danach schaute, was die anderen hören, sehen, machen. Seit ich auf meinen Bauch und auf mein Herz höre. Seitdem ich DT64 für mich entdeckte mit zwar durchaus einer großen Anzahl recht peinlicher und banaler Angebote, aber eben auch mit vielen Sendungen für Menschen wie mich. Ich bin seitdem nur 20 Jahre älter geworden, mag sicher das eine heute weniger und das andere mehr - rein horizontbedingt - aber gehe meinen kulturellen Weg immer noch selbstbestimmt.
Da ich den hessischen Rundfunk auch schon vor 20 Jahren hören konnte, da ich später hr XXL kennenlernte, da ich hr 1 Schwarzweiss kannte und den Kramladen und den Ball, kann ich recht gut einschätzen, was sich für geistig und kulturell selbständige Menschen beim hr in den vergangenen 6 Jahren verändert hat. Und da bleibt nur ein Ergebnis: wer nicht Klassik-affin ist (und vielleicht noch ein bißchen Jazz), ist raus. Komplett. Und selbst die Klassikhörer haben keine anständigen Nachrichten mehr (wenn dem noch so ist, wie es letzten Sommer angerichtet wurde).
Was bitteschön soll ich daran finden außer der Aussage, daß hier ein Verbrechen stattfindet? Daß hier Gebührenzahler um die Gegenleistung geprellt werden? Daß hier ein Solidarsystem (der öffentlich-rechtliche Rundfunk) einseitig den "Solidarpakt" aufgekündigt hat?
Und der hr weiß das, er hat genug Gegenwind bekommen, auch in der Presse. Es ist das Elend der etwas anspuchsvolleren, kulturell selbständigen Menschen, überall rauszufallen. Das spricht gegen dieses Land, gegen diese Gesellschaft, deren Spiegel auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist.
Ich bleibe dabei: Deutschland ist inzwischen gemacht für nichtssagende, platte Konsumenten, Mitläufer, Ja-Sager. Wer da nicht reinpaßt, fliegt raus. Überall. Sei es im Rundfunk, sei es im Beruf. Wenn ich auf die Straße gehe und die Perversion sehe, die wir "Gesellschaft" nennen, wird mir übel. Jeden Tag aufs neue. Das geht vielen meiner Freunde ähnlich, nur können die das häufiger besser kompensieren, da sie sich vor Ort soziale Netzwerke aus Gleichgesinnten geschaffen haben. Die habe ich leider nicht, meine Freunde sind übers Land verstreut. Deshalb fällt es mir deutlicher auf als jenen, die das "da draußen" gar nicht mehr brauchen.
Und ich schäme mich nicht zu sagen, daß ich den Tag herbeisehne, an dem dieses verkommene, menschenverachtende und menschenvernichtende System in sich zusammenbricht. Den pervertierten Rundfunk wird es dann gleich mit wegreißen. Auch ich bin Mensch, auch ich will wieder mal frei atmen und leben können. Derzeit lebe ich nur für andere, denn die Befriedigung meiner Bedürfnisse jenseits von Essen und Schlafen ist mir fast nicht mehr möglich.
In der DDR, die ich weder zurückhaben noch glorifizieren will und die man heute ungefragt als "Diktatur" bezeichnen muß, um nicht in ein politisch fragliches Licht gerückt zu werden, war auch der Rundfunk diktatorisch geführt. Und dennoch gab es dort deutlich mehr Angebote, die sich an kulturelle Minderheiten gerichtet haben, die mehr Aussage und Brisanz hatten, als es heute der Fall ist.
Der heutige Rundfunk ist auch diktatorisch geführt: er dient ausschließlich den Interessen der dumpfen Masse, der Konsumenten. Anders kann das Ausdünnen und Abwickeln auch der letzten noch verbliebenen Angebote, die andere Kreise ansprechen könnten, nicht interpretiert werden. Ich kenne genug anspruchsvolle Radiomacher, um behaupten zu können, daß die Unzufriedenheit und die Frustration über die Entwicklung in den vergangenen 20 Jahren auch da nicht zu überhören und übersehen ist.
Mensch, vor 20 Jahren konnte man Massen mobilisieren mit dem Rundfunk! Da kippten Ikonen, nachdem ihnen im Rundfunk der marode Sockel angesägt worden war. Und heute? Was läuft heute denn brisantes außer dem besten Wetter, dem schnellsten Verkehrsservice und dem geheimnisvollen Geräusch? Und der neuen Single von Lady Gaga. Und der alte Hit von Abba.
Die "Pillen", die ich nehme, sind derzeit übrigens nur welche zum Auffüllen meines durch ein ruinöses Berufsleben völlig leergefressenen Eisenspeichers. Insofern sind keine Auswirkungen auf die geistige Zurechnungsfähigkeit zu befürchten, meint auch der Beipackzettel.
Diese pseudo-intellektuelle Diffarmierung etlicher hr-Hörer kannst du dir echt sparen.
Kann ich machen. Am geistigen Elend dieser Leute ändert das aber auch nichts.
Wenn dein Pauschalrumgehacke wenigstens begründet und nachvollziehbar wäre... ist es aber nicht!
Tröste Dich... das nachvollziehen bestimmter Dinge ist auch für mich manchmal schwierig, auf anderen Gebieten. Du stehst also nicht alleine da mit diesem grundsätzlichen Problem des menschlichen Verstandes.
Zu YOU FM: Die Rotation ist zu eng, gar keine Frage. Trotzdem klingt das Programm immer noch hundertmal angenehmer als planet radio. Während dort fast ausschließlich Rap und Hip Hop läuft (abgesehen von Interpreten wie z.B. Pink oder Xavier Naidoo), kommt bei YOU FM auch Pop und Rock zum Einsatz. Beispiele gefällig? Bitteschön: Offspring, Oasis, Blur, Jack Johnson, Amy MacDonald.
Und? Was soll mir das sagen? Wird das nervige Dauergeclaime dadurch weniger? Wird die Wetterprognose dadurch nicht gefaked "berechnet"? Wird das Angebrülle, der ständige Hintergrundlärm, das Fehlen jeglicher Pausen dadurch weniger? Werden die Hörer dadurch angenehmer? Diese überdrehten Kiddies, die wirken als wären sie auf Entzug und auf der Suche nach der nächsten Party?
Sorry, es mag meine Wahrnehmung sein, aber hr XXL war dagegen beinahe Kulturfunk.
Zu hr3: Das Tagesprogramm ist zwar weitgehend nichts besonderes, liegt aber auch nicht unter dem Niveau vergleichbarer Sender.
So ist das halt, wenn man mit
vergleichbaren Sendern vergleicht. Dann liegt man auf vergleichbarem Niveau. Davon stinkt die Gülle dort auch nicht weniger, davon wird das Fehlen von Rebell und Walter (oder meinetwegen angemessener anderer Sendungen, letztlich kommt es nicht auf diese 2 Namen und genau ihre Sendungsmachart an) auch nicht weniger schmerzhaft.
Bitte nochmal durch den Kopf ziehen: der hr hat es für nötig erachtet, 3 (drei!) Stunden Programm pro Woche (!) für anspruchsvollere nicht-Klassik-Hörer aus dem Programm zu nehmen. Drei Stunden! Auf 6 Wellen, die insgesamt auf 6 x 24 x 7 = 1008 Sendestunden wöchentlich kommen. Dem hr sind die kulturell interessierten Menschen nichtmal 0.3 % seiner Sendezeit wert! Wer das angerichtet hat, gehört vom Hof gejagt, und zwar sofort.
Die Petitionsliste ist noch online. Die meisten der dort abgegebenen Kommentare sind sehr wohltuend zu lesen, egal, ob sie von einem Taxifahrer aus Hanau oder von einem Professor aus Jena stammen. Ich bin mir sicher, mit fast jedem dieser Unterzeichner weitaus besser klarkommen zu können als mit der kreischenden, platten Masse, die von den heutigen Programmen versorgt wird. Ich spüre: das sind alles Menschen, die ähnlich ticken wie ich, die auch zu Hause sitzen, weil sie das da draußen nur noch anwidert. Und das macht mich unendlich wütend. Die, die das angerichtet haben, kommen bei der nächsten Wende auf die Anklagebank. Und wenn ich dafür sorgen werde.
Dafür gibt es abends eine wirklich hörenswerte Sendung: das hr3-madhouse.
Ich hatte aus Neugier mal die erste Ausgabe des Madhouse Finale eingeschaltet (eine Woche nach Volker Rebells letzter Sendung) und wußte nicht, warum ich dafür Zeit und Stromkosten opfern sollte. Da kann ich mir auch Zwischensenderrauschen anhören. Seitdem ist hr3 für mich nicht mehr existent.
In den Rockstunden läuft auch mal richtig harte Musik, die man sonst praktisch nie hört, weil nicht ganz radiotauglich.
Was ist "nicht radiotauglich"? Falls das mehr ist als "volksverhetzend" oder anderweitig neben dem Grundgesetz stehend, entgegene ich: freiwillige Selbstzensur. Klar kann ich nicht vormittags um 9 Musik-Spezialsendungen ins Programm nehmen, aber eben vor allem deshalb, weil ich das interessierte Publikum da mehrheitlich nicht ereichen kann. Vielleicht steht der Zuhörer gerade vor einem Hörsaal voller Studenten oder hinten auf dem Trittbrett der Müllabfuhr - nur am Radio ist er nicht. Aber wenn auch abends kein Platz für Kultur sein soll - wann und wo dann?
Zu hr1: Höre ich gern, wie viele andere auch. Größtes Manko: Zu wenig Abwechslung bei der Musik. Immer wieder die gleichen Interpreten und Titel, es gibt nur wenige Überraschungen. Warum ich es trotzdem höre? Ganz einfach, viele der gespielten Interpreten finde ich gut.
Schön. Ich mag auch manche ganz un-schrägen 80er und vielleicht finde ich unter den vor meiner Zeit gelaufenen 70ern die eine oder andere Perle. Aber diese muffige Atmosphäre, dieses "gib mir das Gefühl zurück", diese zum Erbarmen blöden Sprüche der Morgenleute, die hier letztlich zum Fernbleiben der brillantesten Forenteilnehmer geführt haben, nachdem die berechtigte Frage, ob dies etwa "witzig" sei, zur foren- und hr-internen beinahe-Hinrichtung des Fragenden geführt hat - nein Danke.
Und wenn ich mal die Gelegenheit habe, den Reinke am Donnerstag abend zu hören (meist chatte ich dann mit anderen Reinke-Hörern), besteht neben dem einen oder anderen musikalischen aha-Effekt die Freude und der Genuß bei mir vor allem darin, mich an Reinkes musikalischen Format- und Korsettbrüchen zu erfreuen.
Auch informationstechnisch fühle ich mich bei hr1 gut aufgehoben. Zwar nicht so gut wie bei WDR 2, aber auf jeden Fall locker ausreichend.
Davon abgesehen: Was ist mit hr2, hr4 und hr-info? Gehören die nicht zum hr???
Ich hätte gerne trocken gelesene Nachrichten. Vor zwei Wochen besuchte ich einen anderen Forenschreiber auf dessen Einladung hin zwecks Kennenlernens und Gedankenaustauschs. Es waren zwei kurzweilige Stunden (mehr Zeit war erstmal nicht), deren Ende darin bestand, daß besagter Forenteilnehmer - weit außerhalb Hessens wohnend - hr 4 einschaltete, um die Nachrichten mit Jürgen Kolb zu hören, weil Kolb halt einer der amtlichen Sprecher ist, denen man wirklich gerne zuhört. Ich lausche Kolbs Stimme auch gerne, fühle mich aber massiv gestört durch das völlig deplazierte O-Ton-Gesabbel. Das hat in den Nachrichten nichts zu suchen.
hr2... ich bin nicht Klassik-sozialisiert, weil man zeitlebens versucht hat, mich zwangsweise durch Klassik zu sozialisieren. Ich kann mit dem nervtötenden Gefiedel und dem affektierten Geschrei nichts anfangen, es macht mich aggressiv. Ich kann bis heute nicht mit der Kultur derjenigen umgehen oder sie mir sogar zu Eigen machen, die mich immer versucht haben, nach ihrem Idealbild zu formen. Ist meine persönliche Baustelle - die ARD-Kulturwellen fallen damit für mich weg. Ausnahme: ich nehme irgendwo zufällig mit, daß eine interessante nicht-Musik-Sendung kommt, dann greife ich bei Interesse auch zu. Oft erwische ich mich dann dabei, daß mich selbst der Opener aus der Verpackung der jeweiligen Kulturwelle aggressiv macht.
Da lasse ich aber nicht mit mir diskutieren, da ist auch kein Einlenken meinerseits zu erwarten. Das ist ja genau das Bestreben: höre Klassik und dann bis du auch ein vollwertiger Mensch. Danke, ich verzichte. Ich weiß selbst, was mir guttut.
hr 4... sorry, ich bin 36 und noch nicht pensioniert. Das ist nun wirklich nicht meine Baustelle. Auch dann nicht, wenn ich gerade einen Stoß Schellackplatten digitalisiere und das durchaus ganz kultig finde.
In einem anderen Beitrag hast du von einem Bekannten geschrieben, mit dem du nichts mehr zu tun haben willst, weil er dir gegenüber hr1 verteidigt hat. Weisst du, wie man sowas nennt? K R A N K.
Das war der finale Auslöser, die Inkompatiblitäten bestanden freilich auch ansonsten - durchaus kultureller Art. Da ist es nicht krank, sondern psychisch sehr gesund, den Kontakt auf das guttuende Maß zu reduzieren. Und dieses hieß halt null.
Wenn an den hessischen Zahlen etwas zu bedauern ist, dann ist das der wieder deutlich größer gewordene Vorsprung von FFH. Ein Sender ohne richtige Highlights, bei dem wirklich immer die gleichen Interpreten laufen und man 12x pro Stunde eingetrichtert bekommt, Hessens besten Musikmix zu hören.
Also in etwa so, wie wenn Du von hr1 schreibst, "größtes Manko: Zu wenig Abwechslung bei der Musik. Immer wieder die gleichen Interpreten und Titel, es gibt nur wenige Überraschungen"? Tja...