Wann fällt die Beschränkung auf die fiktive "werberelevante Zielgruppe"?

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Ulrich Köring

RADIOSZENE
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Nicht nur ein Fernsehthema - was viele schon länger wissen, wird in diesem Artikel noch mal schön zusammengefasst:

Milliardenschwere Fernsehwerbung beruhte auf Mumpitz - Altersabgrenzung war ein RTL-Vermarktungstrick

Düsseldorf, 2. April 2009, www.ne-na.de - Die so genannte „werberelevante Kernzielgruppe" der 14- bis 49-Jährigen ist ein Marketing-Mythos des Privatsenders RTL. Das enthüllte der frühere RTL-Vermartungschef Uli Bellieno gegenüber der NDR-Sendung Zapp schon im vergangenen Jahr. Große Auswirkungen hatte das bislang nicht: „Schaut man sich die einschlägigen Fachzeitschriften an, steht bei der Veröffentlichung der Fernsehquoten immer noch die Altersabgrenzung im Vordergrund“, kritisierte Hans-Joachim Strauch, Geschäftsführer des ZDF-Werbefernsehens, auf dem Deutschen Handels-Werbekongress http://www.managementforum.com in Düsseldorf. Das Ganze war ein Vermarktungstrick von Helmut Thoma. Der damalige RTL-Chef habe es mit seiner Eloquenz geschafft, diese Zielgruppe im Markt zu verankern, berichtet Zapp: „Die Kukidents überlasse ich gern dem ZDF“, so der legendäre Ausspruch des Österreichers.

Dabei handelte es sich um eine völlig willkürliche Abgrenzung ohne wissenschaftliche Grundlage. Dennoch wurde die „werberelevante Zielgruppe" die zentrale Währung für die Werbewirtschaft. Seit Mitte der 1980er Jahre sind jährlich Milliarden Euro für Fernsehwerbung verprasst worden auf völlig willkürlichen Grenzziehungen eines Fernsehchefs. Thoma komme sich jetzt vor wie der Zauberlehrling, der nicht mehr beherrscht, was er entfacht hat. Hochbezahlte Mediaplaner, Kommunikationschefs und Werbeexperten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen in Agenturen und in der Wirtschaft fielen darauf rein. Selbst ARD und ZDF rannten dieser Schimäre hinterher. „Dabei hatte unsere Argumentation von Anfang an enorme Lücken“, gab Thoma in einem Interview mit dem Spiegel zu. Er habe der Werbewirtschaft suggeriert: Ihr müsst an die Jungen ran, die „Erstverwender"; deshalb braucht ihr auch keine alten Zuschauer, denn die seien markentreu. Aber ab 29 brauche man wirklich nicht mehr von „Erstverwendern" zu sprechen. Außerdem: Wer habe denn heute das Geld? Die 50- bis 65-Jährigen.

Nach Ansicht des Personalexperten Udo Nadolski, Geschäftsführer des Beratungshauses Harvey, Nash hat sich vor allen Dingen die Konsumgüterindustrie ein sehr faules Kuckucksei ins Nest legen lassen: „Der Jugendkult in der Werbung war eine Schimäre des Tutti Frutti-Senders und niemand auf der Unternehmensseite hat das in Frage gestellt. Hier bewahrheitet sich leider im nachhinein die legendäre Floskel, die Henry Ford II zugeschrieben wird: ‚Ich weiß, dass die Hälfte meiner Werbeausgaben sinnlos zum Fenster herausgeworfenes Geld ist, ich weiß nur nicht welche Hälfte’.“ Vielleicht sei dieser Selbstbetrug auch systemimmanent. „Welcher Werbechef stellt sich denn jetzt seinem Vorstand und gibt zu, dass milliardenschwere Kampagnen auf Mumpitz beruhten“, vermutet Nadolski.

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen sei jedenfalls von Thoma am Nasenring vorgeführt worden. „Wir haben den kommerziellen Konkurrenten 1984 einfach nicht Ernst genommen“, räumt ZDF-Mann Strauch ein. Jetzt allerdings werde verstärkt über Qualität nachgedacht in der Fernsehwerbung. Auch Sonderplatzierungen und Print würden wieder eine größere Rolle spielen.

Auf der Suche nach dem Missing Link in der Zielgruppenanalyse ist man in Kooperation mit der Gesellschaft für Konsumgüterforschung (GfK) http://www.gfk.com auf globale Shopper-Typologien gestoßen. Als besonders relevant gelten die Premium- und Markenkäufer, die man als Zielgruppe für die Mediaplanung bereitstellen möchte. Wenn es beispielsweise um den Kaufakt geht, dominiere bei den Premiumkäufern die ältere Generation. Diese Gruppe achte auf Ästhetik, Ambiente, Emotion, Exklusivität und Service. „Geht man nach der klassischen Aufteilung der 14- bis 49-Jährigen, haben ARD und ZDF in der Zeit von 17 bis 20 Uhr im Schnitt pro Werbeblock 240.000 Personen erreicht. Bei der Aufteilung nach Premium- und Markenkäufern kommen ARD und ZDF auf 1,1 Millionen Personen. Im Vergleich mit den drei größten kommerziellen Sendern RTL, Sat1 und Pro7 erreichen ARD und ZDF doppelt so viele Personen“, erklärte Strauch.
 
AW: Wann fällt die Beschränkung auf die fiktive "werberelevante Zielgruppe"?

Zustimmung: Was aber noch dazu kommt, die "Älteren" haben nicht nur das Geld, sondern auch die Zeit zum Konsum:

Das sehe ich z.B. an meinem Vater, der nachdem er in den Ruhestand ging, erst Geld in Computer, Fernsehen, Unterhaltungselekronik, Urlaubsreisen, Wanderausrüstung etc investiert hat. Ferner natürlich auch verstärkt in Webshops etc einkauft... Diese "Silver Surfer" und ihr Konsumverhalten werden von der Werbeindustrie stark unterschätzt.
 
AW: Wann fällt die Beschränkung auf die fiktive "werberelevante Zielgruppe"?

Spannender Bericht. Würde mich über den richtigen Link freuen - auf ne-na.de ist er nicht zu finden.
Danke, Radiofunky
 
AW: Wann fällt die Beschränkung auf die fiktive "werberelevante Zielgruppe"?

Auch wenn ARD und ZDF als "Seniorensender" abgestempelt werden, sie liegen gut damit. In den kommenden Jahren wird es immer mehr Senioren geben, deren Kaufkraft nicht zu unterschätzen ist. Derweil bedienen viele Private Sender noch die Jugendlichen, die sich aber mit zunehmenden Alter nicht mehr so leicht verblöden lassen.
 
AW: Wann fällt die Beschränkung auf die fiktive "werberelevante Zielgruppe"?

Die Zielgruppe ist weißgott keine Schimäre und noch viel weniger eine Erfindung des schlitzohrig-gewieften Ex-Intendanten Thoma. Sie wurde vielmehr während der 70er Jahre in den USA ausgeheckt, um mit neuen, spritzigen Formaten den etwas festgefahrenen Werbemarkt aufzumischen und um den Markenherstellern ein neues, jugendliches Image zu verleihen. Das erste Network, das auf eine jüngere Zielgruppe setzte, war ABC. Mitte der 80er Jahre verjüngten dann alle großen Networks ihr Hauptabendprogramm und die meisten neuen Kabelkanäle taten es ihnen gleich. Andererseits etablierte sich in den USA im Gegensatz zu Deutschland auch ein festes Segment von Special-Interest-Kanälen und artgleichen Fernsehformaten, die es auf die Knete der Senioren abgesehen haben.

Thoma war nur der erste, der in Deutschland mit der Zielgruppe experimentierte. Natürlich machte es Sinn den verzopften, oblehrerhaften Öffis die gelangweilte Jugend abzuwerben. Gerade diese gewaltige Marktlücke verschaffte RTL den heutigen Status und erklärt die immer noch weit auseinandergehende Altersschere zwischen öffentlich-rechtlichem Fernsehen und Kommerz-TV. Die Privatkanäle sind geradezu auf die jüngeren Bevölkerungsgruppen angewiesen, zumal es sich die reifere Zusschauerschaft längst bei ARD und ZDF gemütlich gemacht hat. Eine Neudefinition der Zielgruppe wäre daher gegenwärtig kaum renditeverheißend.

Im Hörfunkbereich haben wir es allerdings mit einer völlig anderen Situation zu tun. Hier bemühen sich die ÖRs nach Kräften, den Privatsendern die Hörerschaft abzuwerben. Eintönige Service- und Dudelwellen mit Superhits und Info-Schnipseln ahmen ungeniert das Konzept der kommerziellen Konkurrenz nach. Andereseits wird der Massenmarkt der älteren Zuhörer kaum noch bedient, ganz im Gegensatz zum Fernsehbereich, wo mehr als ein dutzend Programme um die Gunst der betagteren Gebührenzahler buhlen. Statt dessen machen manchenorts Kannibalisierungstendenzen innerhalb des Dualen Systems bzw. Rangeleien zwischen den zu üppig gesprossenen Privatsendern den Markt kaputt (Bayern, Berlin). Die ältere, kaufkräftigere Hörerschaft wurde bis dato so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen.
 
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