Aussteuerung von Audiosignalen in der digitalen Domäne
Hallo Audiogemeinde,
habe mir gerade den Artikel
"Headroom bzw. Aussteuerungsreserve − häufiges Missverständnis" bei Sengpiel Audio angesehen und denke, daß die Verfasser die EBU-Empfehlung "9 dB-Headroom bei DIN*-Aussteuerung" nicht kapiert haben und sich teilweise widersprechen.
Da sich @Tondose hier leider nicht mehr sehen lässt möchte ich in die Runde fragen wer sich noch mit dem Thema auseinandersetzt.
Ich sehe das so:
Das Ohr bleibt auch für die digitale Audiotechnik analog und dabei spielt es keine Rolle ob das Signal digital oder analog ausgesteuert wird. Die Einschränkungen in der digitalen Dynamik (<16bit), die eine möglichst hohe Aussteuerung erforderten sind längst überwunden. Bei heutigen 20bit-Systemen kann man leicht 2 bit opfern ohne die Dynamik wahrnehmbar einzuschränken.
- Warum also soll mit einer Aussteuerungsreserve gegeizt werden, die es ermöglicht Tonbeiträge in der Lautstärke einander anzugleichen?
Daß dabei diese Aussteuerungsreserve nicht immer voll genutzt werden kann liegt in der Natur der Sache. Das ist Physik. Es klingen nunmal spitze Jazzmusik und eine elektronische Orgel bei gleicher Maximalamplitude unterschiedlich laut. Wenn man beide in der Lautstärke angleicht erreichen die kurzen Spitzen eine (z.T. erheblich) höhere Amplitude, die in die Aussteuerungsreserve passen muß.
Bei der Erfindung des Aussteuerungsmessers (DIN45406) hat man wohl auch versucht das menschliche Gehör zu berücksichtigen und Tonspitzen <10ms schwächer zu bewerten. Jedenfalls ist es möglich, daß ein Tontechniker mit diesem Gerät annähernd lautstärkegerecht aussteuern kann.
Bekommt der gleiche Mensch plötzlich ein Gerät mit anderen Eigenschaften hingestellt, kommt er unweigerlich ins Schleudern. Bei zu schneller Reaktion der Anzeige (<1ms) wird er im Gegensatz zu früher zu leise aussteuern. Träge Tonsignale werden zu laut.
Ich habe in den 80er Jahren Vorträge von Horst Jakubowski gehört, die mir sehr fundiert erschienen, z.B.
Jakubowski hatte damals essentiell am Brückenschlag zwischen analoger und digitaler Audiowelt mitgearbeitet. Innerhalb der EBU [2] ging es damals darum, wie unter Beibehaltung der Aussteuergewohnheiten (DIN, IEC etc.) das Audiosignal im Rundfunk digital abgebildet werden kann
- ohne daß irgendein bereits richtig ausgesteuertes Audiosignal geklippt wird und
- ohne daß Geräuschabstand (Dynamik) verschenkt wird.
Bei den damaligen knapp-16bit-Systemen einigte man sich nach langen Versuchsreihen auf einen Kompromiss von 9 dB Headroom (Dynamikkompression spielte noch kaum eine Rolle, hohe kurze Spitzen sollten keinesfalls geklippt werden).
Entscheidend war dabei die folgende Beziehung:
-9 dBFS für 100% Aussteuerung nach DIN*[1] (=+6 dBu) !
Das heißt nicht, daß die oberen 9 dB ungenutzt bleiben, wie Sengpiel das suggeriert, der Pegelbereich wird trotzdem durch Signalspitzen mehr oder weniger genutzt! Diese werden bloss auf dem 10ms-Aussteuerungsmesser (DIN*) nicht sichtbar.
Peter Hecker schrieb:
Der berüchtigte Headroom von 9dB wurde nicht erfunden, um Bits ungenutzt zu lassen. Selbstverständlich wird der Headroom (der Bereich zwischen 0dBFS und -9dBFS) genutzt.
Wer immer für Fernsehen, Video und Rundfunk produziert, muß also mit 10ms Attack-Zeit messen, sonst macht er was falsch. Sample-genaue Meßgeräte, sind hier unbrauchbar. ([6], Seite 130)
Sengpiel schrieb:
Ein völlig anderes Bild bei der Digitaltechnik: 10 Millisekunden sind (..) 480 Samples. Was genau geschieht, wenn dem Analog-Digitalwandler der Zahlenvorrat zur Darstellung des Eingangssignals zur Neige geht,
Kann bei 9 dB Headroom nicht passieren!
Sengpiel schrieb:
sollte man digitale Signale nur (!) mit digitalen Aussteuerungsmessern mit einer Einschwingzeit von kleiner 1 ms betrachten. Alles andere ist für mich völlig unverständlich.
genau. -- Wie auch @Tondose oben schon erklärt hat:
- Zur Ausnutzung des ADC-Dynamikbereiches [4] machte es früher durchaus Sinn bei Aufnahmen die echten Spitzen (<1ms) bis unter die Klippgrenze auszusteuern (hat sich für 20bit-Systeme erledigt.) Für die Sendung sollten diese Aufnahmen aber wieder auf den bewährten Pegel angepasst werden um unterschiedliche Lautstärken weitgehend zu vermeiden.
Bei Live-Recording/Übertragung ist auf jeden Fall ein möglichst
definierter Headroom als Aussteuerungsreserve erforderlich, damit man nach der Übertragung noch weiß welcher Digitalwert am Ohr wieder 100% Audiopegel erzeugt.
- Die Aussteuerung mit
"Zappelphilippen" (< 1ms etc.) hat die Aussteuergewohnheiten im Rundfunk
ruiniert , da diese Teile unterschiedlich reagieren und kurze Spitzen den Tontechniker verleiten hektisch den Pegel wegzunehmen. Die Folge: zu leiser Ton.
- Das gleiche unsinnige Resultat wie ein "Zappelphilipp" verursacht das sog. 'Normalisieren', bei dem eine einzige kurze hohe Spitze das Signal in den Keller treibt.
Im Gegensatz dazu haut einem das spitzenlose Signal die Trommelfelle raus.
Ist es nicht sinnvoller notfalls eine Spitze zu klippen, als den gesamten Beitrag im Vergleich zu anderen zu leise auszusteuern? Und ist es nicht sinnvoll brutal komprimierte Musik (CD) auf ein erträgliches Pegelmaß zu dämpfen? Auch wenn sie dann den Headroom nicht mehr nutzt? Für derartige Signale reichen tw. 8 bit Auflösung (statt 16), wie dortiges
-> Beispiel zeigte.
Für stark komprimierte Signale ist neben der DIN-Anzeige eine Lautheitsbewertung notwendig geworden.
Resümee:
Mit dem lange bewährten DIN*-Meter und dem notwendigen Headroom ist m.E. bisher am besten eine für das Ohr ausgewogene Tonaussteuerung möglich. "Spitze Signale" dürfen nicht leiser klingen als "stumpfe Signale". Deshalb der Reservebereich von z.B. 9dB, der dann eben mehr oder weniger genutzt wird. Stark komprimierte Audios (CD) dürfen den Headroom gar nicht nutzen um das Gleichgewicht zu erhalten.
Die Lautstärkemessung scheint schwierig und noch in den Kinderschuhen zu stecken. Aber auch bei richtiger Lautstärkemessung wäre ein dem Gerät entsprechender Headroom erforderlich. Die von Sengpiel geforderte Spitzenaussteuerung (<1ms) geht hierbei in die entgegengesetzte Richtung!
Gruß, TB
P.S.: Leider ist von Horst Jakubowski im Internet kaum noch etwas zu finden außer diesen Relikten (wird aber immer noch gerne zitiert):
[5]
Jakubowski: Dynamik in einem 16 Bit-system
[6]
Tonmeister.de 2003, Seiten 135, 187
____________________
[1] DIN* = Aussteuerungsmesser nach
DIN 45406
[2]
EBU = Europäische Rundfunkunion
[3]
PPM = Peak Programme Meter
[4] ADC = Analog/Digital Converter