Das "eigene" Kabelradio - Gedanken an die Neue Essener Welle

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chrismbc

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Hallo Radiologen,

weil sich die Einrichtung der terristrischen Frequenz für den Lokalsender "Radio Essen" (gehört
zu der Privatradiogruppe "Radio NRW") immer wieder verzögern sollte, entschied man sich,
eine Kabelnetzfrequenz einzurichten, damit die Radiofördervereine, die Anfang der 1990er
gegründet und auch schon bezuschusst wurden, ein Medium bekamen.
Später sollten sie dann auf den Bürgerfunk-Slots von Radio Essen senden.

Ich war beim Sendestart der Neuen Essener Welle noch nicht aktiviert, habe aber an der
Aufbauarbeit der NEW mitgewirkt:
Das Studio war in einer umgebauten öffentlichen Einrichtung (Badehaus der Zeche Carl)
eingerichtet worden - so gut es mit den schon damals knappen Mitteln ging.
Zwar hatten wir eine Zimmerkombination (Sprecher- und Technikraum), welche mit einer
Scheibe getrennt war, aber das war normales Aquariumglas. Bei nur mehr als einer Sendung
konnte man das hören:)
Mit Akribie wurde wenigstens versucht, mit Noppenschaumstoff den Sprecherraum etwas
zu dämpfen. Alles war sehr rustikal. In der Deckenverkleidung steckte ein umgedrehter
Mikrofonständer für die abgehängten Mikrofone. Für Gespächsrunden war der Raum durchaus
brauchbar, sofern jeder Sprecher sein eigenes Mikro vor der Nase hatte.
Ansonsten kamen doch viele Störgeräusche vom Umfeld der Zeche Carl und aus den Nebenräumen
des NEW-Studios: Es gab nämlich noch zwei Produktionsstätten und ein Sendestudio für das
Bürgerfernsehen im direkten Umfeld der NEW.

Die Technik fand ich angemessen für die Verhältnisse.
Es gab einen Eela-Mischer mit Telefonhybrid und Summenbegrenzer sowie Talk-hin (Talkback
war nicht verkabelt, der Sprecher musste sich mit Handzeichen bemerkbar machen).
Zuspieler waren Tapedeck (Reportagen wurden fast ausschließlich auf MC gemacht), CD,
Schalplatte und Revox (oder Studer?) PR99. Aufgenommen wurde auf einer PR99 oder Tape.

Im zweiten(!) Studio der NEW war eine noch abgespecktere Produktionsumgebung vorhanden.
Dort gab es nur einen Raum ohne Noppen an den Wänden und nur mit einer B77 von Revox (Studer?).
Aber es war möglich, während einer Produktion im A-Studio einen Beitrag im B-Studio
mechanisch zu schneiden, um ihn dann zu passender Zeit auf Senkel in der Technik vom A-Studio
einzureichen.


Ich erinnere mich an mehrere technische HighLights, die heute wohl keine Begeisterungsstürme
mehr hervorrufen würden:
Wir hatten ja eine Kabelnetzfrequenz, die zwar mono, aber permanent geschaltet war.
Da bot es sich an, Magazinprogramme live zu gestalten.
Für die Wiederholungssendung lief ein Tapdeck mit.
Statt im Sprecherraum von Studio A ständig zwischen Moderator und Reporter zu wechseln
(zu unserer besten Zeit hatten wir 20 aktive Leute) und dabei immer auf die Mitnahme der
eigenen Pizza zu achten , habe ich ein Kabel zum B-Studio gelegt.
Dort konnten sich die Kollegen, die ihren Beitrag mit Interviewgästen live gestalten wollten,
vorbereiten, bis sie durch den Moderator aus dem A-Studio angekündigt wurden.

Schon damals haben wir Multimedia gelebt:
Für eine Jubiläumssendung und für die Ankündigung des Sendestarts des Privatsenders Radio Essen
hatten wir den Bürgerfernsehverein OK43 (alte Postleitzahl für Essen) über Kreuz mit uns
verkabelt. Eine Kamera stand im Sprecherraum der NEW.
Wir sendeten live zeitgleich auf den Kabelfrequenzen für Fernsehen und Radio.
Die Interkommunikation fand über Telefon statt.

Wenn der letzte nach der Livesendung das Licht ausmachte, wäre es auf der Frequenz der NEW
still gewesen - hätte es da nicht unsere Wiederholungsmaschine gegeben (das war 1992+,
an eine computergestützte Abwicklung war damals überhaupt nicht zu denken und wurde auch
später nie gedacht): Das war ein Doppelcassetendeck mit Autoreverse, welches ich noch
modifiziert hatte. Es spielte entweder die vier Seiten von zwei Kassetten nacheinander ab oder
wiederholte zwei oder vier Seiten pausenlos.
So realisierten wir eine Art "Vollprogramm", welches allerdings auf feste Zeiten ("es ist 12 Uhr")
verzichtete, denn Kassetten sind nie exakt 90 min lang und laufen gerade im Sommer deutlich weg.


DIe größte Herausforderung war die Silvestersendung 1992/1993:
Inzwischen war ich auch beim OK43 aktiv und wollte dort die Sendung ins neue Jahr bringen.
Wir waren uns aber alle einig, dass es unfair gegenüber unseren Zuhörern der NEW gewesen
wäre, wenn ein langweiliges Wiederholungsband gesendet würde.
Also produzierten wir die Sendung vor - aber worauf nur?
HDD gab es damals nicht, Kassette war zu unsicher, da ja ein obligatorischer Countdown
stattfinden sollte, wir aber schon um 22.00 Uhr mit der Sendung starten wollten.
Es gäbe bei dem Wiederholtapedeck zwei Bandrichtungswechsel (Seite 1a auf 1b auf 2a).
Dadurch war die "0" nicht genau planbar.

Wir nahmen auf Videokassete auf.
VHS bietet eine HF-Spur, die in der Qualität einer sehr guten Audiokassette nicht nachsteht.
Weiterer Benefit war die unterbrechnungslose Spieldauer von 180 Minuten.
Mit dem Echtzeitzählwerk peilten wir bei 120 Minuten unsere gedachte 0Uhr an.

Nun begann mein Dilemma: Die Radiosendung musste ja um exakt 22.00Uhr inklusive Vorlauf
der Videokassette gestartet werden. Was zu dem Zeitpunkt in der Tontechnik des Fernsehsenders
los sein würde, konnte ich nicht abschätzen. Ein Wegbleiben aus der Tontechnik vom OK43
für mehrere Minten wäre undenkbar gewesen.
Also verzichtete ich darauf, dass ich am NEW-Mischpult die bis 22.00 laufende
Wiederholungssendung vom Wiederholungskassettendeck ausblenden und punktgenau die
Videokassette starten konnte.
Den Videorecorder, der die Silvester-Radio-Sendung wiedegeben sollte, stellte ich in die
Tontechnik vom OK43. Das Sendesignal der NEW führte ich zum Videorecorder und stellte den
auf Durchschleifbetrieb. Mit einem Vorlauf von experimentell ermittelter Zeit (auf Pause konnte
ich den Recorder ja nicht stellen, denn dann wäre ja kein Signal durchgeschleift worden) startete
ich den Recorder und der würgte die Endloskassette ab und spielte unsere gefakte Sendung
mit Countdown auf Mitternacht. Das klappte auf 2 Sekunden genau!
Einmal im Jahr darf man auch ein tontechnisches Verbrechen begehen:)

Als sich später alle Produzenten auf Radio Essen zubewegt hatten, schlief die Kabelnetz-Frequenz
der NEW ein. Ich versuchte, mit zahlreichen Wiederholungstapes, die ich auch zuhause produzieren
konnte, den Sendebetrieb aufrechtzuerhalten.
Unterstützung bekam ich von allen Beitragsmachern, denn deren Beiträge durfte ich verwenden,
sobald die bei Radio Essen gelaufen waren,.
Auch meldeten sich andere Home-Broadcaster und reichten ihre Produktionen "bei mir" auf
Kassette ein, doch als Solo-Engagierter musste ich einsehen, dass ich das nicht alleine stemmen konnte.

Schade, ich stellte den Sendebetrieb der Kabelfrequenz mit 52000 möglichen Empfängern nach
einem Jahr Rumgewürge ein.


Gruß Christian
 
Sehr schöne Geschichte! So funktionierte Privatradio eben in den Anfangsjahren - mit viel Experimentierfreudigkeit, Engagement und Inbrunst. :thumbsup:
 
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