Hilfe, unsere Hörer sterben weg!

Status
Für weitere Antworten geschlossen.

Musikteppich

Benutzer
Quelle: http://www.berlinonline.de/aktuelles/berliner_zeitung/media/.html/89737.html

Künstlicher Jugendwahn

Radiosender geben sich jünger als sie sind. Das dient dem Ruf und den Wünschen der Werbekunden

Guido Schneider

Mit der Wahrheit nehmen es manche Hörfunker nicht so genau. Obwohl es nur wenige Radiostationen gibt, die den Namen Jugendsender wirklich verdienen, protzen etliche Wellenchefs mit ihren vermeintlich jungen Hörern und gefallen sich selbst in der Rolle des Berufsjugendlichen. So gehen Radiosender wie 98,8 Kiss FM, die ORB-Welle Fritz, Jump vom MDR oder Energy Berlin als Sender für die besonders junge Zielgruppe durch. Bei genauerem Hinschauen entpuppen sich ihre Hörer indes als der Jugend längst entwachsen. Deutlich über 25 Jahre liegt das Alter derjenigen, die die vermeintlichen Jugendprogramme einschalten.
Zwischen Image und Realität

Der Jugendkult ist kalkuliert: Die Sender befriedigen damit schließlich die Erwartungshaltung ihrer Werbekunden. Denn die schalten ihre Werbebotschaften am liebsten in einem als jung und modern geltenden Umfeld. Für die Sender birgt das indes ein Problem. Denn selbstverständlich wollen die Werbekunden eine möglichst große und eine möglichst zahlungskräftige Zielgruppe mit ihren Radiospots erreichen. Wer da nur auf die 14- bis 19-Jährigen setzt, hat schon verloren.

Denn einerseits geht deren Zahl dank geburtenschwacher Jahrgänge immer weiter zurück. Andererseits verfügen sie in der Regel nur über ein geringes Einkommen. Hinzu kommt, dass die unter 20-Jährigen im Durchschnitt weniger Radio hören als ältere Altersgruppen, nämlich nur gut zwei Stunden am Tag. Selbst über 70-Jährige haben das Radiogerät täglich ein halbe Stunde länger eingeschaltet.

"Die Bedeutung der Jugendlichen als Konsumenten wird überschätzt", sagt denn auch Norbert Schmidt, Chef der Hamburger Beratungsfirma Media Sales Management. Logische Folge: Radiosender, die wirtschaftlich überleben wollen, müssen sich stärker auf die jungen Erwachsenen zwischen 20 und 39 Jahren konzentrieren, um überhaupt für Werbekunden interessante Reichweiten zu erzielen. Ein schwieriger Spagat zwischen Image und Realität, den die Werbung den Sendern abfordert. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass der durchschnittliche Hörer des Junge-Leute-Senders Energy Berlin bereits über 30 Jahre alt ist.

Selbst Öffentlich-Rechtliche sind oft älter als sie sich anhören. Vermeintliche Jugendprogramme wie Eins Live des Westdeutschen Rundfunks (WDR) oder MDR Jump entpuppen sich bei näherem Hinsehen als Massensender für junge Erwachsene: Ein Großteil ihres Stammpublikums hat die 30 schon längst überschritten.

Ein Vorwurf sei den Sendern allerdings nicht zu machen, sagt Medienberater Schmidt: "Wer ein breiteres Publikum erreichen will, braucht Hörer, die im Schnitt zwischen 27 und 29 Jahren alt sind." Und wer am Werbetropf hängt, muss ein breites Publikum ansprechen, zumal wenn er nur in einer Region oder Stadt zu hören ist. Auf dem Berliner Markt etwa tun sich Spartensender schwer und leiden in Zeiten schwacher Werbekonjunktur stärker als die Mainstream-Sender r.s.2 oder 104.6 RTL. Schmidt, einst Mitbegründer von Energy Berlin, würdigt zwar die Leistung der Jugendradios für den Hörfunk insgesamt. Doch ihr Geschäft werde schwieriger.

Wohl dem, der nur von Gebühren lebt. So wie der werbefreie MDR-Kultsender Sputnik aus Halle. Ohne kommerziellen Druck kann er sich auf die wahre Jugendszene konzentrieren. Die ist nicht nur überschaubar, mit ihren Ansprüchen ans Programm und ihrer konsumkritischen Haltung grenzt sie sich auch von der Mehrzahl der Hörer ab und wäre daher für Werbekunden völlig uninteressant. Dabei sind die Hörer von Sputnik mit einem Durchschnittsalter von rund 23 Jahren die jüngsten der Republik. Mit seiner Ausrichtung auf das Szenevolk grenzt sich Sputnik zugleich vom werbefinanzierten MDR-Schwesterprogramm Jump ab, das sich zwar ebenfalls jugendlich gibt, aber mit massentauglicher Popmusik ein etwas reiferes Publikum erreicht. "Beide Programme sprechen zwei unterschiedliche Lebenswelten an", sagt der Programmchef der Wellen, Michael Schiwack.

Jump fällt dabei eine völlig andere Aufgabe als Sputnik zu: Es soll mit massentauglicher Musik von Britney Spears oder Ricky Martin die jungen Erwachsenen bei den Privatsendern abwerben. Gegenüber Hörern und Werbekunden spielt Jump dabei geschickt mit seinem jugendlichen Image, obwohl der Durchschnittshörer schon über 30 Jahre zählt.

Besonders findige Radiomacher entziehen sich inzwischen dem künstlichen Jugendwahn. Zum Beispiel Ulrich Hürter. Der Chef von Sunshine Live, einem Technosender aus dem kurpfälzischen Provinznest Schwetzingen, will sich nicht auf die übliche Altersdiskussion einlassen. Er konzentriert sich auf Hörer, die einem bestimmten Musik- und Lebensstil anhängen - egal, wie alt sie sind. Allerdings räumt er ein, dass die Techno-Welt seines Senders bei der Jugend am ausgeprägtesten ist. MDR-Wellenchef Schiwack sieht es ganz ähnlich. Die Gemeinde der Sputnik-Fans sei zwar vorwiegend jung, doch schließe sie jung gebliebene Szene-Senioren jenseits der 30 nicht aus.

Schwere Zeiten für Popwellen

Was zunächst nur wie ein geschickter Etikettenwechsel aussieht, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als clevere Strategie. Die Spartensender von heute sehen sich dabei als Trendsetter. Schließlich kommt auch die Techno-Gemeinde allmählich in die Jahre. Hürter sieht sich daher auf dem richtigen Weg: "Die jungen Spartenprogramme von heute sind die Mainstream-Sender von morgen."

Auf die heutigen Popwellen mit ihrem breiten Publikumsansatz kommen indes schwere Zeiten zu. Ihre Stammhörer werden älter und damit für Werbekunden unattraktiver. Und trotz allen jugendlichen Gebarens, trotz jugend-affiner Marketingaktionen haben diese Sender den Kontakt zu jungen Zielgruppen verloren. Um ihn wiederherzustellen, müssen sie ihr Programm schrittweise für HipHop, Dance oder Techno öffnen - ein Drahtseilakt. Denn dann laufen sie Gefahr, ihr Stammpublikum zu verärgern, das plötzlich merkt, wie alt es eigentlich schon ist.
 
Sehr guter Beitrag, das ist genau das, was ich mir schon längere Zeit gedacht habe. Viele Sender geben an, ein Jugendradio zu sein, sind es in Wirklichkeit aber gar nicht. Kein Wunder, bei der Musik, die z. B. auf den Energy-Stationen, bei Jump oder N-Joy läuft. Meiner Meinung nach ist das keine Musik für Jugendliche, sondern allenfalls für jungebliebene Erwachsene. Ziemlich schade eigentlich. Leider sind ja auch gerade in den letzten Jahren mehrere Sender unheimlich gealtert, vor allem N-Joy und planet radio. Sunshine Live ist für mich schon ein Jugendradio und auch Eins Live klingt etwas jünger als die genannten Sender.
 
Hmmm... mal ne Frage:


Was ist eigentlich ein Jugendsender?

Ich darf mich ja auch zu den Gründungsmitgliedern von Energy Berlin zählen, so wie der Herr Schmidt.
Damals war ich 25 und ausser dem Namen des französischen Gesellschafters NRJ (Nouvelle Radio Jeunesse) war eigentlich gar nix jugendlich! Der Sendername lautete damals übrigens: Viva Berlin - Radio Energy <fingerindenmundsteck>

Der erste Titel auf der 103,4 war "Sultans Of Swing". Hat mit Jugend nicht wirklich was zu tun, oder?

Auch die damaligen amerikanischen Berater zauberten ein astreines Mainstream-Programm in den Selector, allerdings ohne Research.

Auch die Themen waren 91/92 nicht gerade für Jugendliche ansprechend. Also gerade das Beispiel Energy Berlin startete keinesfalls als Jugendradio.
Die Verjüngung fand erst später statt. Zu meiner zeit war Techno dort geächtet. Der damalige PD Steffen Meyer -SCHWEIGEMINUTE- hat Technobemusterungen immer zu mir in die Produktion gesteckt... "Vielleicht taugt das ja für irgend einen Trailer", aber NIE ins Programm.

Für KISS FM ist's ja eigentlich ein Glückfall, dass die Hörer immer um die 30 liegen (zahlungskräftiger).
War bewusst nie angestrebt, hat sich aber so ergeben.
1997 waren's übrigens ein Grossteil Studenten um die 25/26.

Oooops... schon soviel Text?

Nochmal die Frage: Was ist ein echter Jugendsender - Sunshine Live etwa? Eventuell!


Gruss in die Szene


Mike Schneider

www.radiocomedy.de/radiocomedy/

[Dieser Beitrag wurde von Mike am 07.11.2001 editiert.]
 
Mike beschreibt NRG `91 ziemlich korrekt, da war nicht viel Jugendlichkeit.

DT 64 war zu der Zeit übrigens auch kein Sender nur für Teenies, da sendeten 30jährige eigentlich für 30jährige. Ähnlich der Anfang bei Fritz, da ist die Jugend später mit blanker Gewalt auf die Antenne gehoben worden. So klang das damals auch.

Eigentlich auch wurscht : Der Jugendwahn der letzten Jahre (siehe die Stimmchen bei Fritz, Sputnik, früher NJoy, etc.) wird irgendwann "in die Jahre" kommen (Höhö...), ich als 14jähriger fand 14jährige nicht unbedingt spannend, damals eher einen Gottschalk mit "Pop Nach 8". Die Älteren waren cool, nicht die Altersgenossen --

warum sollten 18jährige heute einen 30jährigen DJ ältlich finden ? Das glauben nur die frei herumlaufenden unterinspirierten Medien-Trend-Experten, das aber hartnäckig.

Man stelle sich vor : Die Teenie-Krawall-Talkshow Andreas Türck würde von einem 18jährigen moderiert, da würde doch keine Sau zusehen.

Ansonsten Danke an Mike für die Erinnerung an Steffen.


Doc Deason
 
Eben! Und Jugendliche fanden z.B. auch Charly 2000 toll, und der ist acuh schon um die 40!
Es ist keine Frage des Alters, sondern der Einstellung.
Es gibt auch 15-jährige die Musicals toll finden oder die Schürzenjäger.
 
Schön, das zu hören !
Also ich bin 50 und moderiere in einem ÖR und ich bekomme in einer Oldie-Wunschsendung auch wirklich sehr viele Anrufe von ganz jungen Hörern und das freut mich !
 
@radiocat: Vollkommen korrekt. Ich denke, Jugendliche auf Viva-Massenmusik-Konsumenten zu reduzieren ist etwas weltfremd.

Warum sollen sich nicht auch Jugendliche für Rockklassiker, Oldies oder für volkstümliche Musik interessieren? Oder reduziert sich das am Ende nur darauf, daß "Jugendliche" gleichgesetzt werden mit unkritischen Konsumenten, die jedem Werbetrend hinterhertrotteln und damit logischerweise interessant für die Werbeindustrie sind?
 
Das Beispiel Radio Neckarburg zeigt, dass viel mehr Menschen viel toleranter in bezug auf Musikfarbe und Abwechslung sind, als es
manche "Medienexperten" suggerieren.
 
@ Schnuffel

Ich habe noch nie beim Radio gearbeitet und habe das auch in der Zukunft nicht vor, Du ja wohl auch nicht, oder!?? :))
 
Status
Für weitere Antworten geschlossen.
Zurück
Oben