AW: Jump - es geht noch aggressiver
Werter Herr Solf,
nein, face to face werde ich nicht mit Jump diskutieren. Dies habe ich beim MDR seit 1992 auf zig Ebenen versucht und lange Zeit aus den Reaktionen - so denn überhaupt welche kamen - ausschließlich den Eindruck gewinnen müssen, daß ich zwar für die MDR-Programme zahlen darf, jedoch nicht erwarten kann, daraus einen wie auch immer gearteten Nutzen ziehen zu dürfen. Irgendwann hatte sich bei mir der Begriff "Besatzerfunk" dafür eingeprägt, denn nichts anderes war der MDR lange Zeit für alljene Menschen, die sich noch ein kleinwenig Würde bewahrt haben und bewahren wollen, obwohl sie im MDR-Gebiet leben.
Das geht ja nicht nur vielen Hörern so, sondern auch Journalisten. Die Liste derer, die sogar den Umzug oder das Pendeln aus Berlin nach Halle mitgemacht haben, aber irgendwann feststellen mußten, daß für sie in den MDR-Programmen kein Platz ist, ist lang. Einige haben immerhin durch den Absprung in den seriösen Journalismus und teils durch völligen Rückzug aus dem direkten Programmgeschehen beim MDR (sprich: Dienst für die gesamte ARD) ihre Nische gefunden. Frank Aischmann sei als Beispiel genannt. Andere, wie z.B. Jörg Wagner oder Knut Elstermann, waren durchaus auch noch in Halle dabei (und sei es im Waisenhausring) - sie arbeiten längst beim RBB, da es beim MDR lange keinen Platz für anspruchsvollen Hörfunkjournalismus jenseits der Klassikwelle und des Infoprogramms gab (ob es dort einen gibt, kann ich nicht beurteilen). Und was passieren kann, wenn jemand den Absprung verpaßt, erlebten wir bei Ralf Bieniek, der seit seinen Einsätzen bei Jump (ja, Jump!) dem Radio komplett abgeschworen hat. Bieniek möchte an seine Zeit beim Radio nicht mehr erinnert werden, diese Erfahrung habe ich selbst machen dürfen.
Nennen Sie mir doch bitte auch nur einen einzigen Grund, warum ein Journalist mit gewissem Anspruch an seine Tätigkeit bei Jump arbeiten sollte? Ich kann keinen erkennen - anderswo stemmten Praktikanten und Volontäre jahrelang völlig auf sich gestellt Programme, in denen meßbar mehr Substanz vorhanden war. Beim Privatfunk natürlich, nicht bei der ARD.
Die Frage, warum denn Berliner und Brandenburger mit nachweislich und meßbar gehaltvollerem Programm versorgt werden als die Menschen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, stellt inzwischen schon niemand mehr, da es darauf keine Antwort gäbe außer einer, die mit den Einwohnern der 3 MDR-Länder herzlich wenig zu tun hat, es sei denn, man geht zurück bis zu den Wahlergebnissen der unmittelbaren Wendezeit.
Ich bleibe dabei: das, was der MDR seit der Aufnahme seines Sendebetriebs auf der UKW-Kette des Berliner Rundfunks veranstaltet, ist in höchstem Maße beschämend, eines öffentlich-rechtlichen Programms unangemessen und ein Schlag ins Gesicht eines jeden Gebührenzahlers. Sie wissen sicherlich selbst, daß das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem einen gesellschaftlichen Auftrag hat. Dieser wird auf Jump nicht einmal ansatzweise erfüllt, auf MDR Life wurde er es auch nicht.
Darüber diskutieren möchte ich mit Jump nicht - es ist schade um die Zeit. Und: den "Argumenten" der Berater und Marktforscher kann ich freilich nichts entgegensetzen. Ich will es auch gar nicht, denn für mich gelten andere Werte als die Diktatur der Masse. Die Geschichte weiß: nicht immer hat die Masse recht - und noch seltener ist die Masse in der Lage, die Welt in eine progressive, humane Richtung zu bewegen. Ich bin mir sicher: diejenigen, die nichts weiter sind als Endverbraucher, sind zwar ökonomisch wichtig, tragen aber nichts zur Entwicklung der Menschheit bei, als die Visionen anderer zu finanzieren und somit für alle zu ermöglichen. Die "Endverbraucher" werden meiner Meinung nach von den Privatsendern ausreichend versorgt. Wer bietet etwas Nährboden für die anderen, wenn nicht der öffentlich-rechtliche Rundfunk? Ich weiß: er tut es angeblich - mit Klassik. Einseitige Ernährung ist auf Dauer aber ungesund.
Für mich zählt auch im Radio Herz, Seele, Sensibilität, Authentizität, Esprit - und nicht die Anmutung einer Dampframme, die, weil irgendwann mal jemand befunden hat, diese oder jene Landschaft gehöre eingeebnet, nun seit Jahren dumpf vor sich hin rollt.
Ich lausche lieber Moderatoren und Redakteuren, die etwas eigenes zu sagen haben, statt Claims aufsagen zu müssen. Ich mag Frauen, wenn sie nicht auf infantil getrimmt eine Show abziehen. Ich mag Männer, wenn sie mich nicht anprollen. Meine musikalischen Interessen sind breiter gefächert als 100 oder 200 Rocktitel der jüngeren Vergangenheit. Ich muß nicht den Rüpel spielen, um Aufmerksamkeit zu erregen oder mich abzugrenzen - ich kann inzwischen sehr gut mit mir alleine klarkommen und erhalte Aufmerksamkeit eher aus Gründen, die mit menschlichen Werten zu tun haben. Ich fahre weder tiefergelegt noch breitbereift, sondern Bahn oder Fahrrad. Ich schenke meine Aufmerksamkeit lieber Medien, die auch von Menschen genutzt werden, mit denen ich emotional etwas anfangen kann. Ja, für mich ist Radio keine Einsamkeitsbewältigung, wie ein bekannter Programmchef einmal behauptet hat, sondern sehr wohl ein Ding, das viel mit Gemeinschaft zu tun hat. Und die möge bitte angenehm sein.
Viele dieser Punkte sind weder meßbar noch anderweitig belegbar. Richtig - mit Zahlen über informierenden Wortanteil und ähnliches möchte ich hier gar nicht erst hantieren, es wäre zu beschämend. Da oben steht jede Menge subjektive Wahrnehmung. Meine ganz eigene Wahrnehmung. Mit einer Menge Projektionen und Dingen, die man gerne auch "Vorurteil" nennen kann. Aber genau der von mir hier wiedergegebene Eindruck entsteht bei mir - und vielen meiner Bekannten - im Kontext mit Jump. Keiner von ihnen hört Jump (und die meisten auch keinen anderen Sender, nur zur Beruhigung). Radio ist Kino im Kopf. Der MDR weiß es, er hat selbst 1999 MDR Life einen "irreparablen Imageschaden" attestiert und das Programm der Entsorgung zugeführt. Der Gesamteindruck eines Programms sorgt dafür, ob man sich mit ihm identifiziert oder nicht. Dieser Eindruck entsteht kaum mit der Stoppuhr, sondern im Bauch.
Diese Kritik mag erdrückend wirken. Nehmen Sie sie bitte nicht komplett auf sich. Jump ist in guter Gemeinschaft mit vielen anderen Programmen der ARD (und der Privaten sowieso). SWR3 fällt mir spontan ein, es wird von mir als beinahe wesensgleich wahrgenommen. Wie übel muß das ehemaligen SDR3-Hörern aufstoßen - ich bin weit weg, auch emotional.
Warum ich mich überhaupt noch mit Jump befasse: es ist für mich nach wie vor unerklärlich und unerträglich, daß der MDR dieses Programm ohne Alternativeangebot auf einer großen UKW-Kette verbreitet, statt es als Rock-Webstream ins Netz zu lassen. Ich bleibe weiterhin bei meiner Behauptung: das enge Jump-Korsett findet sich auch tagtäglich im öffentlichen Leben der 3 MDR-Länder wieder. Ob nun das eine vom anderen kommt oder umgekehrt, ist für mich nicht restlos geklärt.
Meine Ansichten zu bestimmten Dingen sind wandlungsfähig, wenn sich die Dinge wandeln. Nehmen wir Sputnik: es ist gut mit der Forensuche zu überprüfen, wie ich 2001, 2005, 2007 oder 2009 diesem Programm gegenüberstand und -stehe. Ich bin älter geworden, habe mich von der Sputnik-Altersgruppe weiter entfernt - aber ich kann wahrnehmen, was da seit 2 Jahren passiert. Aus Aufsagern wurden und werden Menschen. Ein Biotop für teils einzigartig sensible Pflänzchen entsteht (Lydia Herms möge mir diesen Vergleich bitte nicht übelnehmen). Meinungen und Ansichten tauchen auf, ebenso Einblicke in mir teils völlig fremde Welten. Man spürt Lust und Neugier. Es wirkt wie Freilandhaltung statt Käfighaltung, trotz der Enge im Erdgeschoß, wo oft mal 2 Mitarbeiter an einem Schreibtisch sitzen. Der Programmchef zeigt sich überraschend transparent und kommunikativ. Aus dem Sendebunker, der sich gegen jegliche Kritik abschirmt (und sich dennoch "gläsern" nannte), wird ein geistig offenes Funkhaus. Man investiert in Qualität - auch in akustische. Es wird umgebaut, um bessere Mikrofone einsetzen zu können, damit die Stimmen natürlicher klingen.
Nicht alles finde ich gut oder passend, bei manchen Dingen kann ich bestenfalls noch vermuten, daß es gut oder weniger gut gemacht ist, weil ich aus der Zielgruppe raus bin. Aber bei Sputnik findet sich ein Team jeden Tag neu wieder, um das ihrer Ansicht nach bestmögliche Programm zu machen. Ich spüre das, es reißt mich ein Stück weit mit und läßt mich zunehmend länger am Radio verweilen - mit Sputnik.
All dies finde ich bei Jump nicht. Wenn Sputnik gleichwertig Jump auf UKW wäre, hätte ich möglicherweise weniger Probleme damit und ließe Jump links liegen. Aber so, wie die UKW-Realität derzeit aussieht, bleibt die Kritik am MDR bestehen - und die trifft bei mir nun leider Jump. Über MDR 1 regen sich dann meine Eltern auf - nur halt nicht im Internet, dazu sind sie zu alt.
Hier liegt auch ein Problem: warum sollte ich Zeit investieren, damit Jump in meinem Sinne besser würde? Es gibt das bessere Programm doch schon, es ist nur nicht auf UKW. Und da sollte es hin. So schnell wie möglich.
Respekt, daß Sie Ihre Identität hier preisgeben. Meine Identität gebe ich hier nicht preis - fragen Sie einfach den Mann aus dem Erdgeschoß mit dem iPhone, der kennt sie (und mich). Und ich schätze ihn sehr, auch wenn er und ich, was unsere Ansichten zur Existenzberechtigung von Jump betrifft, völlig konträre Meinungen haben.
Ihnen trotz allem ein schönes Wochenende. Sie sind hier in einem weitgehend anonymen Forum. Da geht es mitunter etwas derbe zu.
Beste Grüße
C. S.