radioeins: "Wie tolerant sind wir?"

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Guter Kommentar! Er bedient erst einmal all die Ängste und Reflexe, die jedem von uns innewohnen, und formuliert dann die Kernsätze: "Toleranz ist keine Tugend, sondern eine ständige geistige Anstrengung" - kurzum: "Toleranz ist eine intellektuelle Leistung", die dem Affen in uns vollkommen zuwiderlebt.
 
Das mit der Toleranz ist so schwer nicht: aushalten/erdulden bedeutet es und kommt aus dem Lateinischen. Wer das weiß, muss hier nicht mehr rumspekulieren. Wer das nicht weiß, eigne sich schleunigst das Wissen an. kann man ja Rüschärschieren.

Zum "Erdulden" gehört als Wesensmerkmal, dass man etwas ausdrücklich NICHT gutheißt, es aber dennoch stehen lässt. Man erleidet es, man leidet darunter. Dazu muss man es zwangsläufig schlecht finden und für sich selbst ablehnen. Tolerant bedeutet eben ausdrücklich NICHT, alles auf eine Stufe zu stellen. So wird es vielfach suggeriert, aber das ist falsch. Das ist nichts anderes als Gleichgültigkeit, wenn nämlich alles gleich gültig ist.

Dem Toleranten sind die Dinge aber nicht gleich gültig (und schon gar nicht gleichgültig), er hat eine klare Haltung und Position und auch ein Urteil gefällt. Aber er setzt Position und Urteil nicht auf Biegen und Brechen durch, sondern erduldet, dass ein anderer das völlig anders und in seinen Augen auch völlig falsch sieht.

Und weil das alles so furchtbar theoretisch klingt, ein Beispiel: Es ist nicht der tolerant, der Schwulsein, Transsexualität und Heterosexualität in gleichem Maße in Ordnung findet, sondern derjenige, der zB sagt Hetero ist gut und richtig, der Rest ist Schweinkram, aber ich reden denen nicht rein.
Intolerant wäre der, der sagt, Hetero ist gut und richtig, der Rest ist Schweinkram und deshalb mache ich denen jetzt das Leben schwer.
 
@der beobachter: Jein.
Etymologie ist der falsche Weg bei der Begriffsdeutung. Das wird ja gerne angeführt, aber das macht es nicht richtiger: nur weil etwas im Lateinischen auf eine bestimmte Art verwendet worden ist, muss das mit heutiger Bedeutung nicht einmal mehr verwandt sein. Dementsprechend stimmt es nicht, dass Toleranz "erdulden" bedeutet. Ebenso, wie "geil" heute weiss Gott eine völlig andere Bedeutung hat, als zu Urgroßmutters Gärtnerzeiten.

Hinsichtlich des Toleranzbegriffs gibt es aber tatsächlich eine Verwandtschaft der heutigen Bedeutung zum Wortursprung und Deine Definition ist ja auch soweit richtig, als Toleranz eben nicht bedeutet, alles als gleichermassen richtig zu betrachten. Da dies leider den Machtgestus des Tolerierenden beinhaltet, der für sich somit die Entscheidungsmöglichkeit in Bezug auf die Duldung in Anspruch nimmt, wird deshalb ja auch die Themenwoche kritisiert.

Die Ablehnung des Tolerierten ist aber nicht Bedingung: Es wäre ja ein furchtbarer Begriff, wenn er nur auf Menschen anwendbar wäre, die ablehnen, was nicht ihrer Überzeugung entspricht. Ein Erkennen des Andersseins reicht aus.
Der Hetero, der Schwulsein völlig in Ordnung findet, ist somit tolerant: er stellt einen Unterschied zu sich fest, der ihn nicht anficht.

Wobei ich gerade Homosexualität als Beispiel extrem falsch finde, denn dabei geht es ja gerade nicht um argumentative Verhandlungspositionen, sondern um biologische Tatsachen. Genau deshalb ist ja diese ARD-Plakatkampagne so frech: "Normal oder nicht normal?" ist schlichtweg eine Unverschämtheit.
 
@666 Kann ich soweit zustimmen. Wie weit? Soweit:
"er stellt einen Unterschied zu sich fest, der ihn nicht anficht."
Ein Unterschied, der mich nicht anficht, bedarf nicht meiner Toleranz. Den nehme ich lediglich zur Kenntnis und damit ist es für mich (und hoffentlich auch den anderen) in Ordnung.
Deshalb würde ich auch nie auf die Idee kommen, mich zB Homosexuellen gegenüber als "tolerant" zu bezeichnen. Die sind mir in Sachen sexueller Orientierung gleichgültig.
Tolerant bin ich gegenüber Autofahrern, die auch die 50 Meter zum Kippenkasten mit der Karre machen. Im tiefsten Innern würde ich die gerne auf den Mond schießen und halte ihr Umweltverhalten für unverantwortlich. Aber ich sage mir, "rede ihnen nicht rein, es ist ihre Entscheidung".
 
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Und weil das alles so furchtbar theoretisch klingt, ein Beispiel: Es ist nicht der tolerant, der Schwulsein, Transsexualität und Heterosexualität in gleichem Maße in Ordnung findet, sondern derjenige, der zB sagt Hetero ist gut und richtig, der Rest ist Schweinkram, aber ich reden denen nicht rein.
Intolerant wäre der, der sagt, Hetero ist gut und richtig, der Rest ist Schweinkram und deshalb mache ich denen jetzt das Leben schwer.
Deinem Beispiel nach wären viele der ach so toleranten Feministinnen, auch, oder gerade die, die sich die ARD auf die Website gepflanzt hat um für Toleranz zu werben, Anne Wizorek, intolerant.

Jeder Mann ist ein Vergewaltiger
ist übrigens ein Teil aus ihrem Buch, laut Rezesentinnen (Amazon) ihres Buches.
 
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@666: Wenn ich ein Wort im ursprünglichen Sinne verstehen will (ja, und auch geil gibt es im ursprünglichen Sinne nach wie vor), dann tue ich das. Dann frage ich nicht danach, was der dumme Zeitgeist, der mir schnurzer ist als der berühmter Sack Reis in China, dazu meint. Wer sich nicht etymologisch ein wenig bemüht, der sollte sich in Sprachdiskussionen allerdings ganz heraushalten.
 
@Radiocat: Du kannst tun was Du möchtest. Dabei offenbart sich dann eben ein völlig laienhaftes linguistisches Verständnis und eine absolut unwissenschaftliche Verwechslung von Etymologie und Semantik.
 
@Inselkobi Abgesehen davon, dass tatsächlich nicht jdeder tolerant ist, der sich so bezeichnet, gibt es noch einen Unterschied zwischen dem Einsatz für etwas und der Ablehnung eines Andersdenkenden.
Nimm dir, da du schon die ARD-Seite anführst, die Äußerungen von Herrn Thierse dazu, der bringt es gut auf den Punkt.
Vieles andere auf der Seite kommt ja über hirnfreies Gesäusel nicht hinaus.
 
@666: Das sehe ich absolut anders! Aber gut, wenn Du von Homosexualität als rein biologische Tatsache sprichst, dann habe ich an Deine Professionalität keine grosse Ansprüche mehr.
 
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Bringen wir es doch einfach mal auf den Punkt: Ich habe nichts gegen xxxx (hier kann jeder seine Lieblingsminderheit einsetzen) solange sie in der Straßenbahn aufsteht und mir einen Platz anbietet. Oder um den Altmeister Groucho Marx zu zitieren: "Ich würde niemals in einen Club eintreten, der mich als Mitglied aufnehmen würde." Es gehörte bis weit in 50er Jahre hinein zum guten Ton in vielen amerikanischen Clubs, das selbstredend keine Juden, N**** (die heißen damals so), Mexikaner und Schwule sowieso nicht aufgenommen wurden. Da muss man Herrn Marx, der Jude war, schon recht geben, was sind das für "miese" Clubs, die einen wie ihn aufnehmen würden.

Was überhaupt nicht geht, ist von oben herab verordnete Pseudo-Toleranz gekoppelt mit Sprach- und Denkpolizeilichen Auflagen. Das ist es, was einen verdammt schlechten Geschmack hinterlässt. Gerade bei unserer selbsternannten Moralischen Elite wie Tierrechtsaktivisten, Oberfeministinnen, Gentechnik-Gegnern, Ultra-Religösen etc. gibt es meist eine Null-Toleranz. Warum, man ist ja im Auftrag einer vermeintlich guten Sache unterwegs und da ist alles erlaubt. Der Zweck heiligt gerade in Deutschland die Mittel. Erst werden Begriffe und Worte kontrolliert bzw. tabuisiert, dann Menschen. Die Erde wäre ein verdammt gemütlicher Planet ohne die Toten aus Religions- und Weltanschauungskriegen bzw. Diktaturen. Insofern ist der Mensch, die Tierart, die sich selbst zum "Fressen gern hat".

Ach ja, je höher die Bildung, desto toleranter. Da würde ich mich auch nicht drauf verlassen.
 
@Radiocat: Will heissen, Du hast also weder von Linguistik noch von Biologie eine Ahnung. Und Du kannst das gerne anders sehen. Ist eben dann schlichtweg falsch.
 
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Ach ja, je höher die Bildung, desto toleranter. Da würde ich mich auch nicht drauf verlassen.

Dicke schwitzen, wie die Schweine ... N****, die sind dunkel, im Dunkeln läßt sich munkeln ...
Marius Müller-Westernhagen wurde 2001 im Rathaus von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Hamburgs Bürgermeister Ortwin Runde das Verdienstkreuz am Bande verliehen, vor allem wegen seines kompromißlosen Bekenntnisses zur gesellschaftspolitischen Verantwortung und weil er in seinen Liedtexten sich immer wieder für Toleranz und Integration stark gemacht habe.
 
Dicke schwitzen, wie die Schweine ... N****, die sind dunkel, im Dunkeln läßt sich munkeln ...
Marius Müller-Westernhagen wurde 2001 im Rathaus von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Hamburgs Bürgermeister Ortwin Runde das Verdienstkreuz am Bande verliehen, vor allem wegen seines kompromißlosen Bekenntnisses zur gesellschaftspolitischen Verantwortung und weil er in seinen Liedtexten sich immer wieder für Toleranz und Integration stark gemacht habe.

Ja, Hundeleben - was sagt uns das nun? Zumal Schröder und Runde nicht gerade die Untergewichtigsten sind? Singen wir jetzt immer "Piep, piep, kleiner Teddybär hab mich lieb...", oder: "Kleine Taschenlampe brenn... " Mit reicht es schon wenn gefühlt 9 von 10 Tatortskrimis einen sozialpädagogischen PC-korrekten Hintergrund haben. Angehörige von Minderheiten sind z.B. fast nie der Mörder auch wenn sie im Drehbuch als Hauptverdächtige herausgestellt werden. Was sollen solche Sozial-Pornos?
Übrigens eine nette Parallele zwischen der DDR (Polizeiruf) und BRD (Tatort). Als fleißiger Polizeiruf-Zuschauer wusste man irgendwann: richtige Arbeiter sind fast nie kriminell, Gastwirte in der DDR hingegen verdammt oft. Beim Tatort ist es im Zweifelsfall immer ein Mann und dann gern ein Unternehmer, bzw. ein fieser Handlanger. Ja, ich weiß: Männer sind krimineller als Frauen und wesentlich häufiger in Tötungsdelikte als Täter und Opfer verwickelt. Andere Teile der Kriminalstatistik klammern wir dann einmal aus, wir wollen ja keine Vorurteile befeuern, gell?
 
@666: Nein. Was Du behauptest, ist falsch. Ich würde sagen: Ich habe von beidem noch mehr Ahnung als Du.
@fotoralf: Wer nicht versteht, dass menschliche Sexualität (nicht nur bei Menschen, auch bei Tieren zu beobachten) zu großen Teilen ein kultursoziologisches Produkt ist, hat rein gar nix von der Thematik verstanden. Aber diejenigen, die alles auf die genetische Basis schieben, die gab es schon immer. Ganz ganz gefährliche Klientel, die damit alles rechtfertigen kann.
 
Mal eine ganz andere Frage zwischendurch:
Zeugte es nicht schon von Toleranz, wenn die "westliche Gesellschaft" akzeptieren würde, dass es in anderen Gegenden des "blauen Planetens" durch Jahrhunderte gewachsene Wertevorstellungen gibt, die nicht unbedingt einer "christlich-abendländischen Tradition" (was immer das sein mag und vor allem, wer immer sich anmaßte, diese festzulegen) entsprechen müssen? - Genau so sollte im Umkehrschluss anderen Gesllschaften eine "christlich-abendländische Tradition" auch nicht unbekannt sein und von diesen anerkannt werden.
 
@Ammerlaender: Viel simpler:
Zeugte es nicht schon allein von Toleranz, dass man sich als Antialkoholiker für ein "Nein, danke" auf die Frage: "Auch ein Bier?" nicht zu rechtfertigen bräuchte?
Dasselbe gilt natürlich auch für die Frage mit Fleisch, bestellt man sich ein vegetarisches oder gar ein veganes Gericht.
 
Der Volksmund war schon immer weiter:
"Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!"
Eigentlich idiotensichere Gebrauchsanleitung für Toleranz.
 
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Ich hätte da noch einiges zum Nachdenken (natürlich geklaut), das "Wort zum (Toten-)Sonntag sozusagen:

Toleranz heißt: die Fehler des anderen entschuldigen.
Genie heißt: sie nicht zu bemerken.

Arthur Schopenhauer (1788 - 1860)

Was ist das: Toleranz? - Es ist die schönste Gabe der Menschlichkeit.
Wir sind alle voller Schwächen und Irrtümer;
vergeben wir uns also gegenseitig unsere Torheiten.
Das ist das erste Gebot der Natur.

Voltaire (1694 - 1778)

Der Verfolgungsgeist ist ein wahrer Tyrann,
welcher die Länder entvölkert.
Die Toleranz ist eine zärtliche Mutter,
welche sie blühend macht.

Friedrich II. (1712 - 1786)

Feinde müssen nicht mit Haß, sondern mit Toleranz, Mitleid,
ja fast mit Liebe betrachtet werden.

Jean Paul (1763 - 1825)

Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein:
Sie muß zu Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.

Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832)

Sollte man zu jener scheinbar gerechten, aber parteisüchtig grundfalschen Maxime stimmen, welche dreist genug fordert: Wahre Toleranz müsse auch gegen Intoleranz tolerant sein? Keineswegs! Intoleranz ist immer handelnd und wirkend, sie kann auch nur durch intolerantes Handeln und Wirken gesteuert werden.
Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832)

Toleranz, die von der Freiheit stammt, ist ein Himmelskind und der schönsten eines, aber die Toleranz, die nichts ist als Umschreibung des Satzes "alles ist schließlich ganz egal", die mag der Teufel holen.
Theodor Fontane (1819 - 1898)
 
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