AW: Was war Radio Brandenburg?
Für mich war Radio Brandenburg „Was glauben sie denn, ist Kultur“ unglaublich spannend, bereichernd und befruchtend. Bis heute habe ich keinen Radiosender gehört, der dem auch nur annähernd nahe kommt.
Radio Brandenburg war für mich sogar 1994 ein Grund, das Sendegebiet des MDR zu verlassen und nach Berlin zu ziehen. Dort fand ich einige der besten Leute des ehemaligen Jugendsenders DT64 wieder, aber das Programm hatte sehr viel mehr zu bieten.
Im Grunde bot Radio Brandenburg genau das
Gegenteil des heutigen Formatradios - und das war unerhört spannend von morgens bis in die Nacht. Es ging schon morgens los mit den wohltuend knarzigen und dabei geistig hellwachen Moderationen von Lutz Bertram, der so manch einen Politiker in seinem Telefoninterviews zum schwitzen brachte und deren nichtssagende Worthülsen entlarvte. Danach war man munter. Morgens gab es auch ein kurze Kindersendung mit liebevollen kleinen Mini-Hörspielen und Geschichten. Gegen 11.00 gab es an einigen Tagen Weltmusik. Ansonsten reichte das Musikprogramm von Klassik bis Independent, aber auch das auf einem so hohen Niveau, wie es kein anderer Sender bis heute bietet. Man wusste eigentlich nie, was kommt, und die Musik war fast immer neu für mich. Und das, obwohl ich ein leidenschaftlicher Musikhörer bin. Genau das gefiel mir!
Ich
lernte durch Radio Brandenburg. Ich lernte über Politik, über Wirtschaft, Psychologie, Computer, Ökologie, Geschichte und ich lernte auch ein Menge anspruchsvoller Musik kennen, die ich noch nie gehört hatte. Dieser Sender befruchtete mich, und das tat gut! Es gab einen Haufen Spezialsendungen zu jeder Tag und Nachtzeit - und jeden Tag andere! Man merkte, dass die Musikauswahl von Redakteuren gemacht war, und dass sie manchmal einem sehr subjektiven Geschmack entsprach - und genau das war so spannend.
Besonders in Erinnerung geblieben sind mir Musiksendungen mit Marion Brasch, die sich oft eine Geschichte ausdachte und erzählte, in der sich die Songs thematisch einpassten. Das war Poesie pur. Auch Holger Luckas („Ich wünsche euch einen schönen Abend - wobei auch immer“) war spannend mit seinen fast immer äußerst ausgefallenen, bizarren und ungewöhnlichen Musikbeiträgen. Leider wurde „Freistil“ irgendwann auf einen sehr späten Sendeplatz geschoben.
Zu irgendeiner Zeit war ich mal nach Mitternacht wach und lauschte selbst zu jener Zeit erstaunt und fasziniert ungewöhnlicher Rockmusik, wie ich sie vorher und nachher nicht mehr gehört habe. Neben ungewöhnlicher (und anspruchsvoller Rockmusik) gabs wie gesagt auch Weltmusik, neue Klassik (wie Steve Reich, Piazolla und viele andere).
Radio Brandenburg befruchtete mich. Die heutigen Sender lullen ein. Ein
MDR Figaro ist für mich nur wenige Stunden zu ertragen - dann kennt man sein Programm: Musik und Kulturnachrichten, die ja nicht anecken und die fast immer Werbung für ein aktuelles Produkt sind.
Selbst der Bildungssender
Deutschlandfunk bringt nur Musik, die nicht aneckt, und in seiner politischen Funktion ist dieser Sender inzwischen so verwaschen und angepasst, dass selbst der Humanismus auf der Strecke bleibt (Ein typisches Beispiel ist für mich ist die unreflektierte Wortwahl vom „Angriff auf den Tanklastzug“ 2010 in Afghanistan, der in Wirklichkeit ein Angriff auf die Menschen bei dem Tanklastzug war, die dadurch starben.)
Eigentlich habe ich in den Jahren seit der Abschaltung von Radio Brandenburg nur noch ein einziges Mal eine Radiosendung gehört, die mich gleichermaßen fasziniert hat, die informativ, subjektiv, höchst gebildet und spannend war - das waren die Goldberg-Variationen auf
rbb Kultur mit Clemens Goldberg (leider in meinem derzeitigen Wohnort nicht zu empfangen). Aber auch rbb Kultur ist ein gewollt einseitiger, auf sein Zielpublikum angepasster Format-Sender, dem die Attribute des provozierenden, den Hörer bereichernden von Radio Brandenburg fehlen.
Es gibt einen sehr aussagekräftigen Thread in
http://www.hifi-forum.de/viewthread-234-3-4.html, wo man viel Signifikantes zu Radio Brandenburg findet.
Am 4.April 2010 schreibt dort
Radiowaves:
"Als ich vor einigen Jahren mit einer hochgradig schrägen Mitfahrgelegenheit (Jazz-Musiker, fuhr einen alten Krankenwagen im original-Lack) mal an die Ostsee gefahren bin, lief eine Kassette mit einer alten Sendung von Radio Brandenburg ("Was glauben Sie denn, ist Kultur?"). Der gute Mann hatte sie daheim beim Aufräumen gefunden und wir kamen nun in den Genuß einer Sendung, bei der Marion Brasch eine Singer/Songwriterin zu Gast hatte. Marion machte die Sendung faktisch komplett auf englisch, gefragt wurde solange, bis die Neugier gestillt war, Antworten durften auch über 10 Sekunden lang sein. Die Musik war vom Studiogast ausgesucht und mitgebracht worden und war garantiert nicht "3 Wochen später in aller Munde". Das war Radio! Seriös, spontan, ohne Drehbuch, voller Neugier und Freude.
Und dann solche Sendungen wie das Medienmagazin, damals noch unter reger Freak-Beteiligung. Ich erinnere an Claus Grote, den Seepiratensender-Spezialisten, der für Radio Brandenburg eine lange Serie über die europäischen Seesender produziert hatte. Es gab dann auch mal eine lange Nacht der europäischen Seesender, zu der man sich sogar stilecht die damals noch existierende Mittelwelle des SFB ausgeborgt und die geilsten Freaks aus Holland im Gespräch hatte. Mann, das war noch richtiges Radio! Dafür standen Namen wie Jörg Wagner, Marion Brasch, Holger Luckas, Michael Rödger, Knut Elstermann, Rainer Kruggel, Olaf Leitner, Hans-Georg Knörich sowie einst Lutz Bertram.
Mit Radio Eins verschwanden einige dieser Stimmen, andere wurden in die Abendsendungen abgeschoben. Tags ist Radio Eins für mich eine schwer zu ertragende Lifestyle-Welle. Ein Moderator meinte mal 2001 hinter vorgehaltener Hand, Radio Eins wäre ein "Programm für Zehlendorfer Yuppies", ich ahne das Publikum eher im Prenzlauer Berg, wo man sich für etwas intelligenteres hält. "
Das kann ich alles zu 100% bestätigen.
P.S. Es lohnt sich, den oben erwähnten Thread weiter zu lesen. Es kommen dort noch einige weitere Stimmen zu Radio Brandenburg zu Wort, die ich alle unterschreiben könnte.