Lieber Tim, (Achtung, es wird lang)
erst einmal:
sei gesagt, daß eine Diskussion über die moralische Wertigkeit des 11. Septembers eigentlich nicht in ein Forum gehört, in dem Radio-bezogene Themen diskutiert werden. Aus diesem Gurnd wurde dieser Thread auch vom Chefkoch eröffnet mit der Frage, wie man mit diesemThema umgeht, nicht, was man davon hält. Denn sicherlich ist für uns Medienschaffende eines als sicher festzuhalten: egal, was man über die Geschehnisse des 11. Septembers denkt; es ist auf jeden Fall für uns ein Thema an diesem Tag und deshalb müssen wir auch mit diesem Thema umgehen.
Was man davon hält, oder wie man es persönlich bewertet, ist eine ganz andere Frage - deshalb reagierte ich auch recht verwundert, als auf die Ausgsangsfrage vom Chefkoch mehrere Postings kamen, die irgendwelche Argumente in die Runde warfen, die mehr oder weniger so zu verstehen waren: "ja und, anderswo sterben auch Menschen!" Solch eine Sichtweise erscheint mir weiterhin sehr dünne, kurz gedacht, fehl am Platz und vor allen Dingen ist damit noch keine genaue Position dargestellt. Von daher meine Frage, was damit denn bitteschön gesagt sei.
Nun zu dir:
gut, du hast auf meine Frage hin geantwortet und deine Meinung kundgetan. Schön, soll dir gestattet sein und ist ja auch vollkommen in Ordnung. Darauf läßt sich einsteigen und antworten. Und wenn jemand eine Diskussion haben will, dann hat er auch ein Recht darauf, diese zu bekommen (das ist meine persönliche Meinung) Allerdings frage ich mich, wer denn hier wen "gedissed" haben soll. Ich dich sicherlich nicht - oder du weißt nicht, was dissen bedeutet, oder wie ich schreibe, wenn ich jemanden dissen will. Vielleicht hast du es auch nur rein präventiv schon mal hingeschrieben um eine Diskussion loszutreten und keine Beschimpfungen zu ernten - ja, ich glaube, so wird es sein.
Zu deinen Argumenten:
1. Schön, daß wir uns einig darin sind und beide große Trauer empfinden um die vielen unnötigen Toten und Mitgefühl für deren Angehörigen.
2. Wird diese empfundene Trauer und das Mitgefühl immens geschmälert, wenn man an ihr ein ABER anfügt. Meiner Meinung nach gehört sich dies einfach nicht. Ich empfinde Trauer - PUNKT AUS. Ein ABER wirkt recht ironisch.
3. Empfinde ich es als hochgradig unreflektiert, sarkastisch und gehässig, mit diesem ABER ein Argument anzuführen, was letztendlich nichts mehr und nichts weniger sagt als "Tja, da sind sie aber selbst dran Schuld" bzw. "Das haben sie nun davon". Denn nichts anderes tust du, wenn du hervorhebst, daß es IM EIGENEN LAND geschah und somit die Amerikaner erfahren haben sollen, nicht unantastbar zu sein. Vielleicht habe ich etwas verpaßt, aber ich habe niemals mitbekommen, daß irgendein wichtiger Amerikaner die Behauptung aufgestellt hat, daß sein Land unantastbar sei. Wofür denn dann noch SDI? Warum dann CIA? Wieso dann die Angst vor Nuklearwaffen im Irak? Wie kommst du darauf, daß die Amerikaner dies gedacht hatten und dann eines Besseren belehrt wurden? Das solltest du mal erklären - und sag bitte nicht so etwas wie "das weiß doch jeder" oder "das ist so". Zur Erinnerung: das sind keine Argumente!
Außerdem ist unklar, selbst wenn es so sei, daß die Amerikaner diese Erfahrung der eigenen Verletzbarkeit gemacht hätten, wieso dies dann mit der Trauer in Zusammenhang gebracht wird. Es schmeckt mir überhaupt nicht, daß du deinen Satz beginnst mit "Endlich". "Endlich" hätte die Amis diese Erfahrung gemacht. Dies klingt eindeutig nach besagtem "Geschieht ihnen nur Recht" und das ist bitter und sarkastisch.
Daß du im Folgenden die Tat "logistische Meisterleistung" nennst, verstehe ich mal als Ironie. Anders ist es sicherlich nicht hinzunehmen, Punkt.
Vollkommen unklar ist, was der politische und wirtschaftliche Kurs Amerikas mit den Kontrollen an Flughäfen zu tun hat. Ich glaube, du vermischt hier einiges in nicht statthafter Art und Weise.
Sicherlich kann diskutiert werden, inwieweit der außenpolitische Kurs der Vereinigten Staaten eine Provokation für andere Länder/Völker/Gruppierungen war (und ist) und dadurch eine Tat, wie die hier diskutierte, hervorgerufen wurde. Letzendlich bleibt aber auch hierzu zu sagen: eigentlich ist dies damit nicht zu rechtfertigen. Ein kleines Beispiel: selbst wenn sich ein Arbeitskollege oder sonstwer schlecht benimmt, aufspielt, arrogant ist oder mich offensichtlich benachteiligt - es ist unter keinen Umständen zu rechtfertigen ihn zu verprügeln oder sonstwie Gewalt anzutun.
Kurzum: dieser gesamte von dir angeschnittenen Themenkomplex ist einzig das leider bekannte Stammtisch-Argument "Selber Schuld" und vor allem ist hier der eigentlich nicht zu erklärende Minderwertigkeitskomplex gegenüber Amerika zu erkennen, aus dem heraus eine gewisse Häme nach der Tat empfunden wird. Dies ist eine Respektlosigkeit vor den Toten.
Nun zu dem nächsten Argument:
Okay, darüber läßt sich diskutieren und auch ich habe ähnliches schon einmal selbst angeführt (nämlich als mir die ewige und wochenlange Berichterstattung irgendwann auf die Nerven ging). Aber auch hier liegt meiner Meinung nach ein argumentativer Fehler vor: Die Ereignisse des 11. Septembers waren kaltblütiger und lang geplanter Mord. Mehrere tausend unschuldiger Menschen sind auf einem Schlag gestorben aus Gründen, mit denen sie nicht im entferntesten zu tun hatten. Dieser Mord hat obendrein bei uns solch eine (verständliche) Betroffenheit ausgelöst, nciht nur wegen der vielen unschuldigen Leben, sondern auch, weil etwas eintraf, was "kultureller Schock" genannt werden kann. Die bekanntesten Symbole Amerikas gingen vor unseren Augen in Schutt, wir sahen plötzlich das, was bislang von der anderen Küste (Hollywood) in Tricktechnik hergestellt wurde, in brutaler Realität. Nun sind die USA trotz der eigentlichen Entfernung aber so etwas wie unsere Nachbarn. Und zwar aufgrund zahlreicher Verflechtungen - klar, daß ein Verbechen (vor allem ein solch unvorstellbares) quasi direkt neben unserer Haustür (im übertragenen Sinne) uns sehr anrührt - zudem wir direkt und vermittelt auch davon betroffen waren.
So, darum (und aus vielen anderen Grünen) ist der 11. September ein solch wichtiges Datum für uns geworden.
Diese Geschehnisse, diesen Schock nun mit den Hungertoten Afrikas zu vergleichen geht nicht! Natürlich ist es vollkommen richtig, zu erkennen, daß es eine himmelschreiende Ungerechtigkeit ist, daß dieses täglich stattfindende Elend überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird - sehr richtig. Aber der Vergleich hinkt enorm. Man kann einfach nicht Tote mit Toten vergleichen. Es läuft nicht über die Zahl!
Ich habe im TV gesehen, wie Menschen sich selbst zu Tode stürzten, wie Feuerwehrmännerin ihr Ende rannten und wie Häuser, die in vielen Wohnzimmern hängen, einkrachten - all dies geschah an einem Tag, plötzlich und vor den Augen der Welt! Ich war schockiert.
Und nun werde ich auch sarkastisch - von dem Hunger in der Welt wissen wir, er ist alltäglich geworden - so traurig und ungerecht dies ist. Und daß Menschen an Hunger sterben, dies geschieht (so schlimm und widerlich es ist) bereits seit vielen Jahren - und es geschieht aus Gründen, die sehr vielschichtig und differenziert sind.
Es ist aber etwas völlig anderes als dieser katastrophale, plötzliche Mord (!) des 11. Septembers. Von daher ist es sicherlich legitim, über einen möglichen Trauertag nachzudenken. Es war ein (ein einziger) Tag, an dem etwas grauenvolles und bislang Unbekanntes geschah. Der Hunger der Welt ist aber etwas viel Abstrakteres und (so schlimm dies ist): er geschieht auch nicht bei meinen Nachbarn. (sic)
Ich hoffe, ich habe das getan, was du eingefordert hast: dich schriftlich zerrissen, denn ich habe mir extra soviel Zeit genommen um aufzuzeigen: so einfach ist die Welt (vielleicht leider) nicht eingerichtet, daß man ihr mit so einfachen und "billigen" Argumenten beikommt. Okay, es ist vielleicht von dir aus redlichen Beweggründen motiviert, daß du auch den Hungernden der Welt eine gewisse Aufmerksamkeit zukommen lassen willst und dich die Ungerechtigkeit ärgert, mit denen sie eben nicht wahrgenommen werden ABER: Das geht nicht so. Nicht auf Kosten anderer Toten.
Jetzt ist es an dir, etwas zu erwiedern - wenn du möchtest....
P.S.: Ich habe bewußt darauf verzichtet, Beispiele zu nehmen, die mit unserer eigenen Vergangenheit arbeiten. Allerdings könnte viele davon gemacht werden. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, daß damit Diskussionen noch hitziger werden und pauschal-Wertungen stattfinden. Es sei nur gesagt, daß sich auch hier (und in vielen, vielen anderen Fällen auch) ein ABER generell verbietet.