Das ästhetische Prinzip des Radios

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Hallo Freaks,
hier habe ich mal einen Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung von gestern, den ich sehr interessant fand.


Radio unser

Wie das Prinzip Radiosendung das Spartendenken der Electro-DJs aufweicht


Während Jahren wurden die musikalischen Trends der Klubszene durch Prozesse und Exzesse der Spezialisierung bestimmt. Das ästhetische Prinzip des Radios bietet nun eine Möglichkeit, einen musikalischen Mix durch Stilbrüche dramaturgisch aufzuladen. Das beweisen neuere Aufnahmen von Miss Kittin, DJ Raumschmiere sowie insbesondere Produktionen des deutschen Labels Ocean Club.

Dem wahren Musikliebhaber ist das Radio heutzutage suspekt. Es gilt ihm als der Inbegriff des gleichgeschalteten Mainstreams mit seiner falschen Formatierung der unendlichen Vielfalt des Musikalischen. Das Radio sucht den gemeinsamen musikalischen Nenner der Massen. Das Radio, so scheint es, ist das Medium des Banalen, konsumiert von den Blöden. In letzter Zeit allerdings häufen sich die Anzeichen, dass das Radio gerade in freien und fortschrittlichen Szenen wie der Elektro-Bewegung neue Attraktivität gewinnt, mit anderen Ohren gehört wird. Genauer gesagt: die Idee des Radios als ästhetisches Modell.

Wenn etwa die Schweizer Techno/Elektro- Musikerin und DJane Miss Kittin (alias Caroline Herve) ihre aktuelle DJ-Mix-CD «Radio Caroline Volume1» nennt, der Berliner Producer T. Raumschmiere ein Album mit dem Titel «Radio Blackout» veröffentlicht oder die Radio-Programmmacher des Berliner Ocean Club ihr wöchentliches Radioprogramm in Lokale oder auf CD transferieren, dann steht der Begriff Radio nicht für kommerzielles Broadcasting, sondern für eine ästhetische Form, die Vielfalt und Abwechslung verspricht. Als solche funktioniert das Radiokonzept unabhängig davon, ob die Klänge über den unsichtbaren Äther geschickt werden. Auch die verrauchte Luft der Klubs kann den neuen Radio-Ästheten als Medium dienen. Das Radio ist also auch als eine Methode zu verstehen, die einen originelleren Umgang des DJ und Produzenten mit musikalischen Materialien verspricht.

Stilbruch und Ereignis
Die soeben erschienene zweite Mix-CD des Berliner Radiomacher- und Klub-Kollektivs Ocean Club mit dem Titel «Ocean Club for China» illustriert diese Wende: Ohne Skrupel werden hier Hip-Hop, House, Techno, Neue Musik und sogar Gitarren-Pop in einem bunten Stilmix vereint, dazwischen hört man eigens produzierte radiotypische Jingles. Ocean-Club-Gründerin Gudrun Gut sagt denn auch: «Wir wollen kein Spezialisten-Gewusel. Ich finde es wichtig, dass es Abwechslung gibt und nicht nur eine Sparte gespielt wird.» War elektronische Tanzmusik jahrelang von Spezialisierungsprozessen und -exzessen geprägt, werden die gepanzerten Szenen nun aufgebrochen. Als Panzerknacker dient ausgerechnet das Radiokonzept, das doch sonst immer für kommerzielle Berieselung stand. So wie jeder überall Radio hören kann, wollen auch die neuen Radio-Ästheten jeden ansprechen - es ist dabei egal, ob man etwa die neuesten Minimal-Verästelungen des Minimal Techno auf dem Schirm hat oder bewandert in Garage House ist. - Gegen die masslosen Verfeinerungsspielchen der Spezialisten-Szenen setzt die neue Radio-Ideologie gezielt auf Stilbrüche. Jedes Stück ist prinzipiell anschlussfähig, nicht der perfekte Mix-Übergang ist entscheidend - vielmehr sind Reibungen und Widersprüche gewünscht und stilprägend. Historisches Vorbild für diesen Ansatz ist unbestritten die BBC-Radio- Ikone John Peel, der seit Jahrzehnten seine individuellen Vorlieben zu krude anmutenden Montagen zusammenfügt und damit viele Vertreter der heutigen DJ-Generation musikalisch sozialisierte. Da passt es zur gegenwärtigen Nachfrage, dass kürzlich auf dem Label «Fabriclive» eine John-Peel-Mix-CD erschien. Darauf fügt der Radio-Gottvater Soul, Drum'n'Bass, Rock und Baller-Techno ungewöhnlich riskant zusammen - ganz so, als hätte es die Fragmentierungserscheinungen der letzten Jahre nie gegeben. Wenn sich Techno- und Klub-DJ auf die Peel'schen Anmassungen zurückbesinnen, dann sagt das wohl einiges über den Status quo der elektronischen Tanzmusik aus: Hat die Professionalisierung der Klubkultur dazu geführt, dass die DJ-Sets immer homogener, schematischer und damit absehbarer werden? Hat die Klubkultur ihr eigenes Versprechen einer gefährlichen Erlebniskultur nicht eingelöst?

Ganz scheint es so, denn wenn es DJs wieder erlaubt ist, Sets hinzulegen, die früher als konzeptloses Gemisch abgetan worden wären, dann kommt dabei ein Publikumsbegehren nach unvorhergesehenen Ereignissen zum Ausdruck. Die Flow-Idee von House und Techno scheint in eine Krise geraten zu sein, das Erlebnis eines widerstandslosen Eintauchens in einen Fluss repetitiver Klänge scheint ausgereizt.

Die ästhetische Form des Radios weist da einen gangbaren Weg aus der Krise: Im Presse-Infoblatt zur neuen Ocean-Club-CD heisst es, man wolle «abseits der gewohnten musikalischen Pfade auf Entdeckungsreise» gehen. Das schliesst keineswegs aus, dass die gewollten Stilbrüche nicht auch überblendet und unhörbar gemacht werden. Eine Meisterin in der sanften Tarnung des Widerspruchs ist die in Berlin lebende Schweizerin Miss Kittin. Beinahe unmerklich landet der Hörer ihrer DJ-Sets von Hip-Hop bei Techno und von dort bei Electro. Miss Kittins DJ-Dramaturgien erzählen von ihrer privaten Auseinandersetzung mit Musik - auf ihrer neuen Mix-CD «Radio Caroline Volume 1» wird diese musikalische Autobiografie durch amüsante Anmoderationen ergänzt - inklusive der rührenden Anmerkung, wonach Miss Kittins Eltern auf Techno-Raves gingen, seit ihre Tochter Platten auflege.

Auf ihrer Webseite schreibt Miss Kittin, dass «die Risiken, die ich eingehe, mein Markenzeichen sind». Das klingt zwar stilisierend, tatsächlich aber zeigen junge DJ, die sich der Radio- Ästhetik verschreiben, einen Mut zum Wagnis, den sich die alte Garde der Profi-DJ kaum mehr herausnimmt. Anstatt das Publikum mit fortlaufenden Beats zu programmieren, fordern die Radio-DJ die Zuhörer immer wieder aufs Neue heraus, indem sie den Strom der Beats unterbrechen und scheinbar unpassende Stücke ausprobieren. Ganz bewusst wollen sie irritieren und provozieren. Natürlich gestalten auch die Radio- DJ die Vielfalt nach bestimmten ästhetischen Regeln und nicht nach blosser Willkür - doch haben sie sich eben noch nicht jene allzu dröge Dienstleistungsmentalität des «Hauptsache-es- wird-getanzt» zu eigen gemacht. Man ist wieder «on air», frische Luft strömt herein.

Geschichte statt Geschick
Zugleich öffnet sich die Klubszene nun wieder ihrer eigenen musikalischen Vorgeschichte. Sie tut dies selbstredend nicht im Radiostandard des Oldie-Programms, ihr Einsatz von historischem Material ist subtiler und überraschender. Auch hier hat John Peel Pionierarbeit geleistet - und DJ wie zum Beispiel der beliebte Detroiter DJ- Produzent Theo Parrish treten in seine Fussstapfen: Ohne Skrupel mischt Letzterer House mit The Police, Techno mit den Rolling Stones; die Party-Crowd lässt sich das gefallen und tanzt. «Es geht darum, keine Angst vor Peinlichkeiten und Sentimentalitäten zu haben», erklärt Thomas Fehlmann vom Ocean Club diesen neuen Eklektizismus. Statt sich weiterhin der Zwangsaktualität der Klubszene zu fügen, gräbt man nach älteren Schichten der Musikgeschichte.

Zugleich bietet der Radio-Mix ein Gegenmodell zur kulinarischen Sample-Orgie: Anstatt alles mit jedem in einer schwappenden Lounge- Sosse zu verrühren, lässt man die Musik-Historie wieder selbst zu Wort kommen und nimmt sie somit ernster. Alte Songs werden nicht in Form schlauer Sample-Fetzen bloss zitiert, vielmehr sprechen sie sozusagen in direkter Rede zum Hörer. Beim Ocean Club und bei John Peel entstehen durch diese Entmischung lebendige Geschichtsstunden, während Miss Kittin auf «Radio Caroline Volume 1» und T. Raumschmiere auf «Radio Blackout» eher Montage-Romane erzählen. Zusammen machen all die neuen Radio-Virtuosen Hoffnung auf eine ästhetische Wende - auf mehr Abwechslung, Wagnis und Individualität. «Give the Radio back to the Maniacs», sang einst der Altrocker Alice Cooper. Es scheint, als werde seine Forderung erfüllt. Wenn auch nicht im Radio selbst, sondern auf CD und im Klub.

Aram Lintzel

Miss Kittin: Radio Caroline Volume 1 (Mental Groove Records/Neuton). Ocean Club: Ocean Club for China (V2/ TBA). T. Raumschmiere: Radio Blackout (Shitkatapult/Novamute/Musikvertrieb). John Peel: Fabriclive. 07 (Fabric Records/Musikvertrieb).
 
hab ich das richtig verstanden: banal und flach als "ästhetisches modell", das sich dann auch noch als risikobereit versteht??? liegts an meinem alter, daß ich das nicht verstehe??? :confused:
 
@oha:

Die Massenkultur zeichnet sich unbedingt dadurch aus, "flach und banal" zu sein. Denn sie muss schlussendlich den sogenannten kleinsten gemeinsamen Nenner einer bestimmten, aber breiten Zielgruppe bieten.

Es geht also nicht darum, Formate zu durchbrechen, sondern einfach neue Formate zu finden. Während es in den letzten Jahren in der jüngsten Zielgruppen halt eine große Spezialisierung zwischen den Techno-, Dance-, HipHop-, R'n'B-, NuRock-Musik gegeben hat, und innrhalb dieser Genres wiederum Subgenres enstanden, wird das ganze tendenzielle wieder zusammengeführt.

Es geht in dem NZZ-Artikel also wesentlich darm, dass sich die dargebotene Ästhetik des Radios, mit seinen Moderationen und vor allem seinen abgestimmten Musikplänen, dafür anbietet.

Denn es wird im Artikel ja ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Formatbrüche und -übergänge so gut wie möglich kaschiert werden.

Es ist daher interessant, dass die spezielle Ästhetik des Radios außerhalb des Mediums zu einer Zeit entdeckt wird, wo das Medium selbst seine große ästhetische Krise durchläuft.

Wir werden sehen, ob es künftig wieder eine größere Differenzierung innerhalb der Formate geben wird. Ich wette mal drauf, weil nur auf diese Weise eine Innovation erzeugt werden kann, die wiederum einen massentauglichen Kompromiss darstellt.
 
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