AW: Hessischer Rundfunk erneut in der Kritik
Die (erwartungsgemäß) hitzige Diskussion möchte ich nicht kommentieren, eben weil sie erwartungsgemäß ist. Aber ich will mich wieder mal komplett unbeliebt machen mit ein paar Gedanken/Thesen zu den Umständen, die zur jetzigen Situation geführt haben.
1.
Kommerziellen Anbietern kann man keinerlei Vorwurf machen, was eine evtl. "flache", "anspruchslose" etc. Programmgestaltung angeht. Sie sind zum wirtschaftlichen Überleben verpflichtet - also müssen sie so viele Hörer wie möglich für sich gewinnen. Wer etwas anderes von ihnen fordert, hat Marktwirtschaft nicht begriffen. Gäbe es ab morgen plötzlich keinen Interessenten für Schokoeis mehr und würde stattdessen Sauerkrauteis verlangt - es fände schnell in die Tiefkühltruhe.
2.
Öffentlich-rechtliche Anbieter sind - so lange, wie sie ihre Angebote auf das wirklich durch Gebühren finanzierbare beschränken - scheinbar nicht von der Quote abhängig. "Scheinbar", weil es freilich einen über die Quote ausgeübten Rechtfertigungsdruck gibt: zum einen von der Politik, die z.B. über Rundfunkstaatsverträge regelt, welche Anstalt in welchem Bundesland funken darf, zum anderen von der die Programme beobachtenden Bevölkerung, die mehrheitlich eine gemeinsame Eigenschaft hat: Unwillen, GEZ zu zahlen. Beide Mechanismen drücken über Intendanz / Wellenchef freilich auf die Redaktionen durch und nur auf den heiligen Kühen namens "Kulturkanal" oder "Spezialprogramm/Auffangbecken" können sich die Mitarbeiter länger den Bestrebungen zur Anpassung an die Masse widersetzen.
3.
Letztlich steckt damit hinter der inhaltlichen Abwärtsspirale eine einzige Treibkraft: der Wunsch der Mehrheit nach immer mehr Zerstreuung und Ablenkung in Form greller Bilder, zur Schau gestellten Leids anderer, im Radio halt bestenfalls noch Infohäppchen, die nicht die unangenehmen, "dunklen" Seiten in uns ansprechen können - und schreiende Gute-Laune-Moderatoren. Dieser Wunsch wiederum resultiert aus den individuellen ungelösten Konflikten und Problemen jedes Einzelnen und dem Verlangen, an diese schmerzhaften Punkte nicht ranzumüssen - letztlich der Versuch einer Flucht aus der Verantwortung für das eigene Leben.
4.
Jetzt werde ich provokativ: wer nun allzu lautstark fordert, bestehende und nach eigener Bewertung "anspruchsvolle" Angebote zu erhalten und dafür sogar bereit ist, die Rübe in einer "virtuellen Schlägerei" (z.B. in einem Webforum) hinzuhalten, transportiert genau das gleiche Bestreben nach Ablenkung von den eigenen ungelösten Konflikten - nur in anderes Geschenkpapier verpackt. Man kann sich nicht nur durch Dauerbeschuß mit bunten Bildern und Gute-Laune-Moderatoren vom eigenen Leben abhalten, sondern auch durch eine "verkopfte", "intellektuelle" Lebensweise, die einem den Weg ins Leben auch gründlich versperren kann. Ich hab da gewisse Erfahrungen mit mir selbst...
5.
Der "gesunde" Ausweg aus dem Elend fängt bei jedem Einzelnen an: mit psychosozialer Hygiene, beginnend bei sich selbst, dann in der Partnerschaft, der Familie, freilich auch im Großen in der Gesellschaft. Würde dies angegangen, klärten sich viele seltsamen Dinge ganz von allein - die Mittags-Talkshows, in denen sich 20-jährige vor laufender Kamera gegenseitig die Verantwortung für ihr vermeintliches Schicksal und Elend vor die Füße kotzen, hätten beispielsweise plötzlich keinen Zulauf mehr, weder seitens potentieller Zuschauer noch seitens der zur-Schau-Steller. Radio könnte zu einem Genuß-, Kommunikations- und Informationsmedium werden, ohne mit - je nach Vorliebe - vor allem "laut, bunt und grell" oder "einlullend" das Loch in der Seele jedes einzelnen stopfen zu müssen - das ist ohnehin nicht stopfbar.
6.
Daß im Radio "früher alles besser" war, hat viel mit den damals vorherrschenden Strukturen zu tun, die sich weniger an den Wünschen der Bevölkerung, sondern vielmehr an den Vorstellungen einer intellektuell führenden Schicht orientierten, die missionarisch das sendeten, was sie für "gut" befanden. Genau aus dieser Situation heraus ist auch der Erfolg der Seepiratensender in den 60ern zu erklären, das waren die ersten, die das aufgebrochen haben. Wäre die Gesellschaft damals schon so konsequent auf die Lustbefriedigung des Individuums (und die damit verbundene Gewinnmaximierung) ausgerichtet gewesen, es wäre alles viel früher so gekommen, wie es jetzt ist.
7.
Wenn nun der neue Intendant einer Anstalt mehr zur Gruppe der "Bedürfnisbefriediger" gehört, rollt natürlich eine Lawine von Veränderungen an. Dagegen mit
vertretbarem Aufwand zu protestieren, ist ein Grundrecht, auch wenn die Triebkraft für den Protest möglicherweise auch nur wieder eine Neurose ist. Das System ist ohnehin schon viel zu weit aus der Mitte gerückt (="verrückt").
Wem das alles zu kompliziert war und wer nicht weiß, was ich mit den "unangenehmen, dunklen Seiten" meine - hier gibts ausführlichen Lesestoff:
http://www.amazon.de/exec/obidos/AS...r=2-1/ref=sr_aps_prod_1_1/028-7723450-1838949 .
Weia, jetzt kann ich mich ja auf was einrichten... *wegduck*
Beste Grüße,
Christian
P.S.
Unterschreiben werd ich auch - auch meine Neurose will ja gepflegt werden und gute Sendungen, die ich in meiner Funktion als Hörer schätze, gibts eh schon wenige.