OnkelOtto
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Lass hören!![]()
Na gut, Counti. Ich hab mal für eine Publikation einen längeren Text über Hansens Nächte geschrieben. Wer Lust hat, ihn zu lesen - bitteschön

In den Nächten entfaltet das Funkhaus eine ganz eigene Atmosphäre. Auf den langen Gängen ist es dunkel und still. Irgendwo glimmt ein Notlämpchen, damit man nicht gegen die nächste Brandschutztür läuft. Menschenleer ist der riesige Sender um halb drei in der Nacht.
Manche sagen, in den tiefen, verlassenen Weiten der hr-Gebäude spuke es. Wachleute auf ihrem Rundgang würden nur mit leichtem Grusel durch den sogenannten H-Bau patrouillieren, ein riesiger, vielstöckiger Klotz, der hauptsächlich die Verwaltung beherbergt und des Nachts völlig verwaist ist. Doch plötzlich würden Aufzüge leer losfahren und sich die Türen genau dann öffnen, wenn der Wachmann am Fahrstuhl vorbeiginge. Und gegen Morgen würde im roten, dunklen Klinkerbau der Abteilung „Ernste Musik“ ein vor langen Jahren verstorbener Redakteur leise Geige spielen…
Niemand arbeitet… Wirklich niemand?
Oben, im dritten Stock des Rundbaus an der Bertramstraße sind zwei Räume knapp beleuchtet. Das Studio der Nachtsendung. Tonträger H, genannt „Heinrich“. Von hier kommt der ARD-Nachtexpress. Es riecht nach leckeren Speisen. Die Damen und Herren der Tontechnik haben zur langen Nacht Selbstgekochtes und -gebackenes mitgebracht. Das Sendeteam kommt so über die nächsten Stunden. Denn die Kantine öffnet erst zur Frühstückszeit…
Jeden Dienstag auf Mittwoch, in späteren Jahren von Mittwoch auf Donnerstag, war der hr mit der Nachtsendung „dran“. Er musste für die gesamte Sendergemeinschaft der ARD ein „Musikprogramm mit Ansage und Nachrichten“ gestalten. Die westdeutschen Funkhäuser schalteten sich nachts zusammen, reihum über die Woche. „Nachtversorgung“ hieß das technisch und emotionsfrei. „Musik bis zum frühen Morgen“ stand in den Programmzeitschriften.
Und hier saß nun der Nachtwächter, der große Zampano der späten Stunde, Chefsprecher und Moderator von 22.30 Uhr bis 6 Uhr am anderen Morgen: Helmut Hansen!
Die „Nacht“ war Hansens Steckenpferd - und sein Heiligtum. Der Chefsprecher hätte sich die dunklen Stunden wahrlich nicht immer um die Ohren schlagen müssen. Es gab durchaus auch andere Sprecher, die gerne mal die Moderation übernommen hätten. Nein, er und nur er allein war der „Nacht-Expressionist“ mit einer riesigen Heerschar an Fans landauf, landab. Von den 50er Jahren bis zu seiner Pensionierung Mitte der 80er ritt Hansen unermüdlich sein akustisches Steckenpferd. Über 750 Mal.
Zu Beginn das Ritual: Ein Tanzorchester spielte vom Band Hansens höchst eigene Erkennungsmelodie „Beyond The Blue Horizon“. Der Chefsprecher begrüßte die Nachtschichtler und Schlaflosen unter den Hörern und erzählte kurz, was das Moderationsthema der nächsten Stunden sei. Mal war es „der Frühling“, mal „die Reise“, mal „die Literatur“. Dazu trug Hansen Sende-Nacht für Sende-Nacht einen schweren, alten Karteikasten ins Studio. Darin steckten unzählige Gedichte, Geschichten und Anmoderationen. Waren die Kärtchen verlesen, kamen sie wieder hinter den Stapel und damit automatisch irgendwann wieder zum Vorschein. So begann der Zyklus ca. alle fünf Jahre mit dem jeweiligen Thema wieder von vorne. Hansens Musikredakteure, in den letzten Jahren meist der liebenswerte, großartig sächselnde Fred Gräfe, suchten passende Schlager und Instrumentalmusik heraus. So bekam das Ganze über die Nacht hinweg einen klingenden roten Faden.
Als besonderes Erkennungszeichen seiner Nacht sendete Hansen eine kleine akustische Spezialität. Sie hob ihn von anderen Nachtmoderatoren der ARD ab: Während der Meister moderierte, hörte man unter seinen Worten leise die rhythmischen, wuchtigen, dumpfen Geräusche eines fahrenden Zuges. Dieser kleine Kunstgriff ließ eine faszinierende Atmosphäre entstehen. Hansen sprach ein Gedicht oder erzählte eine kleine Anekdote - und im akustischen Hintergrund ratterte vom Geräuschband dunkel ein Zug über nächtliche Gleise in die Ferne.
Jedes Mal, wenn sich nach Mitternacht eine weitere ARD-Anstalt zuschaltete, begrüßte Hansen die neu Hinzugekommenen mit den Worten „Und nun, zur Null-Uhr-Zehn-Station, ist der Kurswagen aus Saarbrücken dabei, gleich erwarten wir den aus Köln… In wenigen Minuten bitten wir Hamburg um Zustieg“. Der Hörer, wenn er sich darauf einließ, wurde als Schlafwagengast mitgenommen durch die Dunkelheit.
Irgendwann in den 70ern geschah das Unvorstellbare:
Hansen war krank. Schnupfen vielleicht oder Magen-Darm. Er konnte „seinen“ Express nicht moderieren. Wer aber sollte an Hansens Stelle die Ansagen übernehmen? Wer wäre es würdig, ihn, den Gott der Nacht, dieses eine Mal zu vertreten?
Hansens Wahl fiel auf einen sehr arrivierten Sprecherkollegen, dessen Namen ich wegen möglicher Spätfolgen besser verschweige.
Jener Sprecher war sich der Bürde und der Schwere der Aufgabe durchaus bewusst. Aber: Er konnte es nicht lassen, eigene Akzente zu setzen.
Er moderierte locker in Hansens Stil, trug kleine Gedichte vor, erzählte Histörchen. Und auch er ließ während seiner Moderationen das Geräusch eines Zuges einspielen – allerdings nicht das dunkle Rauschen eines Fernzugs, sondern das liebliche Surren einer kleinen Märklin-Lokomotive Spur H0. Attentat! Sakrileg! Die glamouröseste, berühmteste, beliebteste, verehrteste, epochalste Sendung der gesamten ARD war geschändet! Auf den heiligen Frequenz-Schienen des Hansen’schen Nachtexpress schnurrte - eine Modelleisenbahn!
Soweit mir bekannt, hat jener Kollege „die Nacht“ nie wieder moderiert. Er verließ das Funkhaus nur kurz nach dem Frevel für immer. Ob die Schändung schuld war, wer weiß…
In späteren Jahren wurde Hansen liberaler. Gegen Ende seiner Laufbahn, irgendwann in den 80ern, durften auch wir jungen Moderatoren auf den Heiligen Stuhl im nächtlichen „Tonträger Heinrich“.
Eine wirkliche Ehre war es mir dann, Helmut Hansen bei seiner letzten Sendung 1984 im Studio durch die Nacht begleiten zu dürfen - neben ihm sitzend, als stiller Gast. Die Höreranrufe mit den besten Wünschen für ihn und seine Zukunft nach der Pensionierung waren Legion, die Geschenke stapelten sich…
Viele Jahre später, irgendwann in den 2000ern, entdeckte ich bei einem Redaktionsumzug eine dicke, verstaubte Kladde, zur Aktenvernichtung bestimmt. Liebevoll handbeschriftet war sie, fast kalligraphisch: „Der ARD-Nachtexpress. Moderation: Helmut Hansen“. Darin hatte der alte Chefsprecher seine gesamte Philosophie der Nacht entfaltet. Wie man seine Hörer anzusprechen habe, wie man Musik ansagen sollte, wie die besondere Atmosphäre der Nachtmoderation entstünde. Die Blätter enthielten nicht nur Texte zur Anmutung der Sendung; auch akribische Auswertungen der Hörerpostflut waren zu finden - und an einigen Manuskriptstellen die fast flehentliche Bitte, ihm, Hansen, seine „Nacht“ doch nicht wegzunehmen. Aus dem vergilbten Material drangen laute Hilfeschreie.
Offenbar hatten die ARD-Oberen irgendwann entschieden, die Hansen’schen Sendungen zu stoppen. In der ARD wird ja öfter Erfolgreiches eingestellt, ohne dass man als einfacher Arbeiter im Weinberg der Intendanten die Gründe so recht nachvollziehen könnte. Mit seinem Dossier in der alten Kladde hatte sich Hansen verzweifelt und gleichzeitig höchst elegant gegen das Ende seines „Nachtexpress“ gewehrt. Erfolgreich. Zum Glück.
Dennoch schied Hansen nicht frohgemut in seinen Ruhestand. Das eigene Sprecherteam hatte ihm seinen Abschied nicht leichtgemacht. Noch verhaftet in patriarchalischen Strukturen, war Helmut Hansen nicht frei von autokratischem Führungsverhalten. Die gewählte Vertretung der Sprecherinnen und Sprecher intervenierte immer öfter gegen Hansens Dienstplangestaltung und setzte den alten Chef mit Eingaben, Rundschreiben und Personalratsgesprächen unter Druck. Er schied schließlich tief enttäuscht von seiner eigenen Truppe. Ein trauriger Abgang nach glanzvollen Jahrzehnten am Mikrofon.