Da ist es schon seltsam, dass das angeblich nur in Hessen noch funktioniert, anderswo aber alle Sender für die ältere Generation mittlerweile ganz anders klingen.
Bis weit in die 90er hinein, in einigen Gegenden bis heute (selbst erlebt: Schwalm, Marburger Hinterland, Teile von GI, LDK und VB) gab und gibt es in Hessen eine lebhafte Kirmes- und Burschenschafts-Kultur, die Toleranz lehrte. Was die Kapelle am Samstagabend auf der Kirmes spielte, das war der kleinste gemeinsame Nenner, mit dem alle Generationen klar kamen. Und da war vor Mitternacht eben alles an Musik denkbar, von Rosamunde über Schunkelmusik, von Schlager bis Pop, Country und Oldies. Hauptsache schwofen, trinken, Stimmung und mitsingen. Das hat die Leute aus diesen ländlichen Gegenden, die heute 40 und älter sind, definitiv geprägt - und aus diesen speist sich bestimmt ein guter Teil der hr4-Hörer. Ich sehe den Sender daher keineswegs auf die ältere Generation beschränkt. Die hätte das vielleicht gerne.
Eine neue Liebe, Mona Lisa, Himbeereis zum Frühstück, Rote Sonne von Barbados, Mendocino, Country Roads, Rivers of Babylon, Wolle Petry... Gemeinhin alles, was die 70er und 80er an Stimmungsschlagern hergaben, war Gemeingut und positiv hinterlegt. Daran hat sich in den Köpfen dieser Menschen bis heute nichts verändert. Und wenn die Oma auf der Hochzeit beim Weißen Mond von Maratonga immer schön schlurfend das Bein auf der Tanzfläche nachzog, dann war das für den Rest der Gesellschaft absolut kein Grund, sich über die Musik aufzuregen - es gehörte dazu. Was in Großstädten und im Osten praktisch undenkbar war, das war und ist in weiten Teilen Hessens gelebte Realität: Musikalische Toleranz - leider meist nur von jung nach alt, und selten umgekehrt.
In die Karten spielte den Liebhabern dieser Musik, dass sie sich perfekt für die Live-Darbietung eignet. Die Songs hatten 5-6 Akkorde, eingängige Texte und Melodien, waren in den Arrangements mit jeder noch so kleinen Besetzung reproduzierbar. Die Kirmes-Bands mussten sich auf das Beschränken, was für sie musikalisch live machbar war, und dabei eine enorme Bandbreite abdecken. Je nach Qualität der (Hobby-)Musiker gingen auch Schritte in Pop/Rock, aber die Schlagerwelt bliebt bis in die 90er eine stabile Basis für praktisch jeden Kirmestanzabend / jede Familienfeier. Wenige Perlen hatte dann jede Band drauf - frag mal auf Schwälmer Dörfern, ob man dort den Song "Mexico" von den Onkelz kennt. Spoiler: Rechne mit "ja" als Antwort für jeden/jede unter 70. Grund ist einfach, dass die dort damals meistgebuchte Kirmes-Band diesen Song als Teil ihrer Partyrock-Runde hatte.
Ich vermute mal, dass in anderen Teilen unserer Republik genau diese Kirmes- und Burschenschaftskultur fehlte oder (im Osten sicher politisch gewollt und musikalisch reglementiert) kleiner ausfiel. In Hessen hat hr4 daher eine rosige Zukunft vor sich, solange die Großstädter nicht meutern, und Zahnschmerzen-Songs vermieden werden, die eben mangels Stimmungsfaktor nicht positiv hinterlegt sind, aber als Körperverletzung durchgehen könnten (Iglesias).