SPIEGEL ONLINE - 04. November 2003, 11:21
URL: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzkultur/0,1518,272469,00.html
Kampf dem Einheitsbrei
Charts nonstop, totgedudelt
Von Mario Gongolsky
Bundesweit tönen täglich die etwa 40 gleichen Titel aus dem Radio. Das, glaubt die Aktion Rotationsverbot, sei ein Grund für die Krise der Musikindustrie - und eine Qual für die Hörer. Sie fordert die "Radioquote" - und Applaus kommt sogar von Radioproduzenten und Plattenbossen.
AP
Krisenfreie Zone: Schrille Live-Events boomen, während der Musikverkauf immer weiter zurückgeht
Wenn DJ Ottic am Freitag nach Hause kommt, weiß er schon, was ihn vor seiner Haustür erwartet: Ein Stapel mit brandaktuellen CDs zahlloser Plattenlabels, die jede Möglichkeit nutzen, um auf ihre aktuellen Produktionen hinzuweisen. Immer mehr sind es geworden in den letzten Jahren. "Wir übernehmen mehr und mehr die Aufgabe, unbekannte Künstler zu promoten. Eine Funktion, die das Radio und das Musikfernsehen immer seltener wahrnehmen."
Der Grund, so glaubt er, liege in der flächendeckenden Einführung der Musikrotation. Platz ist da nur noch für die Chartstürmer großer Labels, gespielt wird nur noch Mainstream. "Es kann doch nicht sein, dass der musikalische Horizont deutscher Radiohörer auf 20 Musiktitel und vier Musikstile verengt wird", ärgert sich sein Mitstreiter, der Softwareentwickler Sebastian Nohn.
Rotationsverbot und Deutschlandquote
"Viele Stücke werden einfach im Radio totgedudelt. Eine Single, die man täglich zehn Mal hört, kauft man sich doch nicht mehr", argumentieren die zwei Protestler und formieren auf ihrer Webseite Rotationsverbot.de den Widerstand der Hörer gegen den akustischen Einheitsbrei.
Obwohl die Seite erst seit der Popkomm 2003 online ist, kommen bereits täglich 500 Besucher und diskutieren leidenschaftlich über Problem und Lösung. Über das Problem besteht offenbar sogar ein Konsens zwischen Musikindustrie und Hörern. Der sehr beredete deutsche Universal-Chef Tim Renner, formulierte in einem Interview der Fachzeitschrift "Werben & Verkaufen" Kritik an der gezielten Totvermarktung durch ermüdende Titelrotation im Radio. Als Lösung kann sich die Musikindustrie sogar eine Radioquote vorstellen.
Der Vorschlag Bayerns, eine Deutschlandquote in den Rundfunkstaatsvertrag aufzunehmen, fand bei den Ministerpräsidenten vorerst keine Mehrheit. Sehr zum Leidwesen der Deutschen Phonoverbände, deren Vorsitzender Gerd Gebhardt es erschreckend findet, "dass die meisten öffentlich-rechtlichen Radioprogramme in Deutschland kaum noch musikalische Neuheiten senden."
Nur "geiles Zeug", das keiner mehr hören mag
Während sich private und öffentlich-rechtliche Hörfunkveranstalter in Sachen Musikauswahl allenfalls noch graduell unterscheiden, verschwinden inzwischen immer mehr musikalische Stilrichtungen aus dem bundesdeutschen Äther. Selbst volkstümliche Programme wie RPR2 in Rheinland-Pfalz machen jungen Wellen wie "BigFM" Platz, wo angeblich "nur geiles Zeug" läuft, an der sich die konsumfreudige junge Zielgruppe aber schon lange satt gehört hat.
"Rotationsverbot, das ist vor allem ein provokanter Claim", erklärt Nohn. "Wir wollen eine Diskussion darüber, ob nicht alle Beteiligten von einem breiteren musikalischen Spektrum profitieren könnten." Und das tagsüber und nicht etwa nach irgendeinem System, bei dem die Sender nachts zwischen 1 Uhr und 6 Uhr zur Quotenerfüllung in die Kopfkissen senden. "Man muss sich einmal die Frage stellen", philosophiert DJ Ottic, "ob Musiker wie Bob Dylan, Marvin Gaye oder David Bowie in der heutigen Radiolandschaft eine Chance gehabt hätten?"
Harte Rotation und enge Formate, die Fokussierung der Programme auf den kleinsten musikalischen Nenner verbannt die subjektive und emotionale Arbeit des klassischen Musikredakteurs zunehmend ins Geschichtsbuch.
Mit dem Problem beschäftigt sich auch der als SWR-3-Moderator bekannt gewordene Patrick Lynen. Heute bildet er unter anderem an der Deutschen Hörfunkakademie in Dortmund Radiomoderatoren aus und berät Rundfunksender: "Die Forderung nach einem Rotationsverbot klingt ziemlich nach Mittelalter", schmunzelt Lynen und findet, die Wahrheit liege wie so oft in der Mitte. "Eigentlich ist die Rotation ein sinnvolles Planungsinstrument, aber die Form, in der sie jetzt stattfindet, schadet dem Radio."
Lynen weiß, wovon er spricht: "Die Formatregeln sind gleichzeitig so eng gezurrt, dass Kreativität, Authentizität oder Emotionalität der Moderatoren nicht - oder kaum - möglich ist. Das Ergebnis ist ein scheintotes Radio von der Stange."
Radiomacher mit kapitalem Hörschaden?
Zweihundert "Formate" mit fast deckungsgleicher Musik und sterile Moderatoren ohne Profil und Personality, glaubt Lynen, könnten allenfalls dafür sorgen, dass Hörer nicht sofort abschalten. Einschalten wolle man sie nicht! Allerdings sieht Patrick Lynen bereits erste Anzeichen für eine Rückbesinnung: "Noch haben die Verantwortlichen Angst vor Hörerverlusten, doch in der Medienanalyse stehen außergewöhnliche Programme inzwischen klar auf der Gewinnerseite." Die Erfolgsformel klingt simpel: Wer echte On-Air-Persönlichkeiten hat, gewinnt die Schlacht.
Immer mehr Hörer fordern ein vielfältiges musikalisches Radioprogramm, doch wenn es um die Wünsche von König Kunde geht, könnte man bei den Programmverantwortlichen einen kapitalen Hörschaden vermuten. Alles wird Becher, denn schließlich geht es hier um Einschaltquoten und Minutenpreise. Auf eine Gebärde reagieren taube Radiomacher aber garantiert: abschalten!
URL: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzkultur/0,1518,272469,00.html
Kampf dem Einheitsbrei
Charts nonstop, totgedudelt
Von Mario Gongolsky
Bundesweit tönen täglich die etwa 40 gleichen Titel aus dem Radio. Das, glaubt die Aktion Rotationsverbot, sei ein Grund für die Krise der Musikindustrie - und eine Qual für die Hörer. Sie fordert die "Radioquote" - und Applaus kommt sogar von Radioproduzenten und Plattenbossen.
AP
Krisenfreie Zone: Schrille Live-Events boomen, während der Musikverkauf immer weiter zurückgeht
Wenn DJ Ottic am Freitag nach Hause kommt, weiß er schon, was ihn vor seiner Haustür erwartet: Ein Stapel mit brandaktuellen CDs zahlloser Plattenlabels, die jede Möglichkeit nutzen, um auf ihre aktuellen Produktionen hinzuweisen. Immer mehr sind es geworden in den letzten Jahren. "Wir übernehmen mehr und mehr die Aufgabe, unbekannte Künstler zu promoten. Eine Funktion, die das Radio und das Musikfernsehen immer seltener wahrnehmen."
Der Grund, so glaubt er, liege in der flächendeckenden Einführung der Musikrotation. Platz ist da nur noch für die Chartstürmer großer Labels, gespielt wird nur noch Mainstream. "Es kann doch nicht sein, dass der musikalische Horizont deutscher Radiohörer auf 20 Musiktitel und vier Musikstile verengt wird", ärgert sich sein Mitstreiter, der Softwareentwickler Sebastian Nohn.
Rotationsverbot und Deutschlandquote
"Viele Stücke werden einfach im Radio totgedudelt. Eine Single, die man täglich zehn Mal hört, kauft man sich doch nicht mehr", argumentieren die zwei Protestler und formieren auf ihrer Webseite Rotationsverbot.de den Widerstand der Hörer gegen den akustischen Einheitsbrei.
Obwohl die Seite erst seit der Popkomm 2003 online ist, kommen bereits täglich 500 Besucher und diskutieren leidenschaftlich über Problem und Lösung. Über das Problem besteht offenbar sogar ein Konsens zwischen Musikindustrie und Hörern. Der sehr beredete deutsche Universal-Chef Tim Renner, formulierte in einem Interview der Fachzeitschrift "Werben & Verkaufen" Kritik an der gezielten Totvermarktung durch ermüdende Titelrotation im Radio. Als Lösung kann sich die Musikindustrie sogar eine Radioquote vorstellen.
Der Vorschlag Bayerns, eine Deutschlandquote in den Rundfunkstaatsvertrag aufzunehmen, fand bei den Ministerpräsidenten vorerst keine Mehrheit. Sehr zum Leidwesen der Deutschen Phonoverbände, deren Vorsitzender Gerd Gebhardt es erschreckend findet, "dass die meisten öffentlich-rechtlichen Radioprogramme in Deutschland kaum noch musikalische Neuheiten senden."
Nur "geiles Zeug", das keiner mehr hören mag
Während sich private und öffentlich-rechtliche Hörfunkveranstalter in Sachen Musikauswahl allenfalls noch graduell unterscheiden, verschwinden inzwischen immer mehr musikalische Stilrichtungen aus dem bundesdeutschen Äther. Selbst volkstümliche Programme wie RPR2 in Rheinland-Pfalz machen jungen Wellen wie "BigFM" Platz, wo angeblich "nur geiles Zeug" läuft, an der sich die konsumfreudige junge Zielgruppe aber schon lange satt gehört hat.
"Rotationsverbot, das ist vor allem ein provokanter Claim", erklärt Nohn. "Wir wollen eine Diskussion darüber, ob nicht alle Beteiligten von einem breiteren musikalischen Spektrum profitieren könnten." Und das tagsüber und nicht etwa nach irgendeinem System, bei dem die Sender nachts zwischen 1 Uhr und 6 Uhr zur Quotenerfüllung in die Kopfkissen senden. "Man muss sich einmal die Frage stellen", philosophiert DJ Ottic, "ob Musiker wie Bob Dylan, Marvin Gaye oder David Bowie in der heutigen Radiolandschaft eine Chance gehabt hätten?"
Harte Rotation und enge Formate, die Fokussierung der Programme auf den kleinsten musikalischen Nenner verbannt die subjektive und emotionale Arbeit des klassischen Musikredakteurs zunehmend ins Geschichtsbuch.
Mit dem Problem beschäftigt sich auch der als SWR-3-Moderator bekannt gewordene Patrick Lynen. Heute bildet er unter anderem an der Deutschen Hörfunkakademie in Dortmund Radiomoderatoren aus und berät Rundfunksender: "Die Forderung nach einem Rotationsverbot klingt ziemlich nach Mittelalter", schmunzelt Lynen und findet, die Wahrheit liege wie so oft in der Mitte. "Eigentlich ist die Rotation ein sinnvolles Planungsinstrument, aber die Form, in der sie jetzt stattfindet, schadet dem Radio."
Lynen weiß, wovon er spricht: "Die Formatregeln sind gleichzeitig so eng gezurrt, dass Kreativität, Authentizität oder Emotionalität der Moderatoren nicht - oder kaum - möglich ist. Das Ergebnis ist ein scheintotes Radio von der Stange."
Radiomacher mit kapitalem Hörschaden?
Zweihundert "Formate" mit fast deckungsgleicher Musik und sterile Moderatoren ohne Profil und Personality, glaubt Lynen, könnten allenfalls dafür sorgen, dass Hörer nicht sofort abschalten. Einschalten wolle man sie nicht! Allerdings sieht Patrick Lynen bereits erste Anzeichen für eine Rückbesinnung: "Noch haben die Verantwortlichen Angst vor Hörerverlusten, doch in der Medienanalyse stehen außergewöhnliche Programme inzwischen klar auf der Gewinnerseite." Die Erfolgsformel klingt simpel: Wer echte On-Air-Persönlichkeiten hat, gewinnt die Schlacht.
Immer mehr Hörer fordern ein vielfältiges musikalisches Radioprogramm, doch wenn es um die Wünsche von König Kunde geht, könnte man bei den Programmverantwortlichen einen kapitalen Hörschaden vermuten. Alles wird Becher, denn schließlich geht es hier um Einschaltquoten und Minutenpreise. Auf eine Gebärde reagieren taube Radiomacher aber garantiert: abschalten!