Lippewelle in der SZ

Status
Für weitere Antworten geschlossen.

ENERWE

Benutzer
Ein lokaler Rundfunksender bricht die Einschaltrekorde

Das Dudel-Wunder von Hamm

Mit kalkulierter Hemdsärmeligkeit und sprachlichen Grenzgängen hat sich Radio Lippe Welle Hamm an die Spitze der NRW-Charts gefunkt

Von Hans Hoff

Hamm - Wer frühmorgens in Anwesenheit von Mitmenschen eins der 46 NRW-Lokalradioprogramme einschaltet, erfüllt leicht den Tatbestand vorsätzlicher Körperverletzung. Da dudeln aus dem Lautsprecher schmierig- weiche Hits wie Softeis aus einer Maschine und in den Gehörgängen wehrloser Aufgeweckter vermengen sich die akustischen Einwegprodukte oft mit dem an Dummdeutsch heranreichenden Wortdurchfall penetrant gut gelaunter Moderatoren. Fast unbemerkt fließen ein paar Lokalnachrichten in die Radiosoße, und gelegentlich wird mit äußerst kurzen Kurzbeiträgen so etwas wie Reportage simuliert.
Formatradio nennt man das, wenn möglichst alle Sender bis zur Ununterscheidbarkeit gleichgeschaltet sind und sich den größten Teil des Tages ein vom Oberhausener Rahmenprogramm Radio NRW geliefertes Mäntelchen überziehen. Doch nicht überall funktioniert der Einheitshörfunk so, wie das im Lehrbuch für anspruchslose Berieselung vorgesehen ist. Davon zeugt die Hitliste der NRW-Lokalsender, die jährlich durch eine elektronische Medienanalyse (EMA) ermittelt wird. Viele der Stationen, die den Intellekt ihrer Hörer gering wähnen, landen da auf unteren Rängen und tummeln sich dort mit anderen Einheitsbrei-Lieferanten. An der Spitze findet sich dagegen immer derselbe Sender.
Leckere Anmoderation
Dieser Sender heißt Radio Lippe Welle Hamm und führt seit vier Jahren die NRW-Charts an. Erst noch im Kopf-an-Kopf-Rennen mit anderen Stationen, inzwischen aber als alles überstrahlender Sieger. Mit einem Wert von 50 Prozent in der maßgebenden Kategorie "Hörer gestern" vergrößerten die Hammer in der diesjährigen Auswertung die Distanz zum Zweitplatzierten auf satte zehn Prozentpunkte und erreichen nun jeden zweiten ihrer knapp 140 000 potentiellen Hörer. Damit sind sie für viele Formatradio-Dogmatiker nicht mehr von dieser Radiowelt. Einige, die bei früheren Erfolgen noch von Zufall und Glück lästerten, nennen es inzwischen ehrfurchtsvoll das "Wunder von Hamm".
Der Wunder-Sender funkt direkt an der Autobahn. Wenn sich frühmorgens die Sonne gerade als roter Feuerball über der benachbarten A2 erhebt, dann hat Simone Schmidt fast nur rechteckige Freunde. In der düsteren Einsamkeit ihres acht Quadratmeter-Studios wollen viele Knöpfe gedrückt und sechs Flachbildschirme beachtet werden. So wie die Moderatorin da an ihrem Stehpult agiert, könnte sie auch ein Atomkraftwerk steuern oder einen ICE oder eben die werktägliche Frühstrecke ihres Erfolgsradios.
Wer Simone Schmidt zum ersten Mal begegnet, kommt außerdem nicht gleich drauf, dass sie Teil eines Wunders ist. Dafür weiß man zu schnell, wo ihre Wiege stand. Wenn die 30-Jährige nämlich etwas vom Gegenüber will, dann fragt sie "Können wir das eben wacker machen?", und wenn sie vom Job spricht, dann sagt sie "auffe Arbeit". Keine Frage, Simone Schmidt ist, wie man so schön sagt, aus Hamm wech und eben deshalb da.
Vor neun Jahren hat sie als freie Mitarbeiterin angefangen, hat das Radiomachen von der Pieke auf gelernt und ihre Kenntnisse als "Lokalfun- Mäuschen" auch schon mal bei einem Kieler Radio erprobt. Aber da war ihr zuviel Musik und zu wenig Wort. "Da brauche ich ja nichts mehr zu moderieren, da kann ich dann auch den DJ in der Disko machen", sagt sie und setzt sich wieder ihren Kopfhörer auf, weil sie nun einen Beitrag ihrer Vizechefin Anne Böse anmoderieren muss. Der dreht sich um Kommunions-Feiern, was das heimatsprachliche Herz der Moderatorin zur Korrektur bewegt. Das heiße ja wohl korrekt "Kommijon" belehrt sie ihre Hörer und kann sich nach einem rührend niedlichen Einspieler mit vielen Kinderstimmen auch nicht die kecke Abmoderation verkneifen: "Anne Böse war für uns bei den Vorbereitungen und hatte Pippi in den Augen."
Von "Pippi in den Augen" sprechen bei Radio Lippe Welle Hamm viele, wenn sie "weinen" meinen. In Hamm versteht man das, auch wenn es knapp an der Grenze dessen siedelt, was sprachlich noch erlaubt ist. Aber an der Grenze dessen, was geht, streunen die Hammer häufiger. So war auch der Kommunionsbeitrag viel zu lang, länger auf jeden Fall, als es Privatfunkexperten erlauben. Aber wer will schon ernsthaft einem Sieger Ratschläge geben? Solange die Quoten stimmen, darf gewerkelt werden. "Wir halten uns zu 85 Prozent ans Format", sagt Anne Böse und klingt ob der Abweichung ein bisschen stolz. Ein bisschen rebellisch will man schon sein. Und dazu passt es auch, wenn Chefredakteur Gerd Heistermann von den Kollegen aus anderen Sendern spricht, die bei Besprechungen immer adrett mit Anzug, Krawatte und vorgefasster Meinung einlaufen. "Manchmal fühle ich mich da schon als Exot", sagt der ehemalige Philosoph und Lehrer, der selten Schlips trägt, morgens mit dem Rad in die Redaktion kommt und auf der Homepage des Senders von seinen Kollegen als Piet Klocke des Lokalfunks beschrieben wird.
In der Tat sind Parallelen zwischen dem Essener Verwirr-Kabarettisten und dem Hammer Radiomann unverkennbar. Beide reden gerne und ausdauernd, und beide landen nicht immer an dem Ziel, das der Satzanfang vermuten ließ. "Der Hörer ist keine Masse, sondern der Mensch, der auf dem Klo sitzt", sagt Heistermann schon mal und propagiert ein Konzept, das man auch als kalkulierte Hemdsärmeligkeit bezeichnen könnte. Heistermann will in seinem Programm "Geschichten disparater Art", will auch mal auf etwas rumhacken, dann aber auch wieder nett sein. Auf keinen Fall will er den andernorts üblichen Lokalfunk-Hype kreieren. "Wenn wir sagen, in Hamm ist es nur sensationell, dann belügen wir die Leute", sagt er. Statt dessen stellt er seinen Sender lieber neben die örtliche Zeitung, schaut, wie oft sich der Westfälische Anzeiger von Geschichten aus dem Radio inspirieren lässt und wie oft das umgekehrt der Fall ist. Natürlich geht das Rennen zugunsten von Radio Lippe Welle Hamm aus, aber weil der Sender über seine Betriebsgesellschaft auch zur Zeitung gehört, findet Heistermann ein weises Bild: "Wir sind der Zwerg auf der Schulter des Riesen."
Wenn der Zwerg zur Konferenz bläst, dann würden Außenstehende nicht gleich auf die Lageplanung eines Erfolgssenders tippen. Eher würde man sich versetzt fühlen in die Sitzung einer Schülervertretung. Da wird geklönt, gequatscht und gegiggelt, und mittendrin doziert der Chef mit unendlich anmutender Geduld. "Mir liegt eher das Gutmütige", sagt Heistermann: "Aber die Leute wissen, dass ich auch das Schwert ziehen kann."
Die lockere Mischung aus Ambition und Freigeist mag ein Grund für den Erfolg des Hammer Radios zu sein, denn Hörer registrieren unbewusst, wohin das Stimmungsbarometer einer Redaktion ausschlägt. "Wir verstehen uns super, und das spürt man sofort", beschreibt Simone Schmidt das positive Binnenverhältnis, das dafür sorgt, dass alle seit mindestens ewig in der Redaktion mitarbeiten. Nur einmal musste Heistermann einem seiner fünf Redakteure kündigen, was ihm sehr schwer gefallen sein muss. Und einmal ist eine Redakteurin von selbst gegangen. Ansonsten wollen alle immer bleiben. In einer Branche, in der die Halbwertzeit von Redakteuren gelegentlich nur noch in Monaten messbar ist, ist das eine Erscheinung für sich.
"Die treffen einfach das Lebensgefühl der Hammer", sagt man bei Radio NRW mit verwundertem Unterton, und externe Radioberater kommen prompt ins Schwärmen, wenn sie von Heistermanns Herde berichten. Der bundesweit aktive Moderatorentrainer Patrick Lynen spricht von einer "unglaublichen lokalen Kompetenz" und hebt auch eine emotionale Qualität hervor: "Die nehmen ihre Hörer in einer Art ernst, wie ich es noch bei keinem anderen Sender erlebt habe." Simone Schmidt nimmt zusätzlich die Hörer mit ins Erfolgsboot. "Die Hammer bilden so etwas wie eine Gemeinschaft", sagt sie. Dazu kommt ein Sendegebiet, das nach Meinung von Peter Widlok, dem Sprecher der aufsichtsführenden Landesanstalt für Rundfunk, "unglaublich gut einen gewachsenen Kommunikationsraum abbildet".
Manchmal scheint Gerd Heistermann all das Lob dann aber doch etwas unheimlich. "Ich weiß doch auch nicht, wie es uns zugefallen ist", spielt er auf die Spitzenwerte an und mischt gleich ein wenig prophetischen Essig in den Euphoriewein: "Irgendwann wird es auch wieder runtergehen.". Was dann wird, weiß er auch noch nicht. Auf jeden Fall werden sich dann all die melden, die schon jetzt gerne die Kanten vom Senderkonzept schleifen und die Lippewellen in formatgerechte Stromlinienform bringen würden. Für so einen Fall hat sich Heistermann zum Trost schon mal eine relativierende These zurecht gelegt. "Wenn man selbstbewusst auftritt, kann man in diesem Markt jede These vertreten", sagt er und kehrt den Philosophen heraus: "Weil alles irgendwann richtig ist."
 
Ganz amüsant. Hans Hoff hatte es damals bei der Rheinischen Post schon raus, von nix ne Ahnung zu haben, aber alles verreissen zu können. Siehe: 46 Lokalstationen.

Ich lese ihn trotzdem gern.
 
Hans Hoff schreibt in der SZ, andere machen Lokalfunk mit Pippi in die Augen. Er polarisiert ein bisschen (er kommt halt doch von der RP), aber er kann das Wunder letztendlich auch nicht erklären. Ist auch egal, denn er hat ja im Prinzip Recht... So ist das eben. Entweder Gerd Heistermann ist ein Genie, oder die Hammer sind besonders bescheuert. Statistisch gesehen ist das Erstere wahrscheinlicher, jeder zweite Hammer kann nicht irren.
 
Es gibt Menschen, die glauben, sie haben Recht.

Es gibt Menschen, die haben Recht.

Erstere sind Quotenmäßig im Keller.
Die zweite Gruppe steht ganz oben.

Wer mit einem von unten zu tun hat, wird merken: Ich habe Recht.

Wer mit einem von oben zu tun hat, wird merken: Ich habe Recht.

Was will ich eigentlich?
Kotzen.
 
Status
Für weitere Antworten geschlossen.
Zurück
Oben