Wenn ich die Wahl zwischen Dudel habe, der mir zu 100% gefällt oder Dudel, der mir vielleicht zu 50% gefällt und dann noch durch Werbung oder für mich nicht relevante Inhalte unterbrochen wird, ist ja klar, was ich wähle. Was fehlt, ist echte Interaktion zwischen Macher und Hörer. Und das genau wäre das Alleinstellungsmerkmal von "Radio", ganz egal, über welchen Ausspielweg.
Du bringst es auf den Punkt. Radio muss nicht neu erfunden werden, denn es ist in den vergangen 100 Jahren schon ziemlich genial erfunden worden. Was jetzt wichtig ist, ist viel eher ein Besinnen auf die Trümpfe, die das Radio zweifellos hat. Dazu gehört auch das Überbordwerfen bisher allgemein beliebter Zielsetzungen. Die Sache mit dem schnellsten Medium der Welt fällt mir da zum Beispiel ein. Völlig überholt, der Versuch, das Internet zu überholen, ja, selbst mit ihm mithalten zu können, ist längst zwecklos geworden. Radio kann aber nach wie vor eines der Medien sein, die am schnellsten darin sind, das Geschehen in Ruhe, strukturiert und mit Hintergrundinformationen aufzuarbeiten. Interviews, die in Echtzeit über den Sender gehen und für die man weiter nichts als einen Reporter und ein Mikrofon braucht, kann das Radio zum Beispiel auch heute noch besser als jeder andere.
Noch so eine alt hergebrachte Weisheit: Das wichtigste ist mit Abstand die Musik, das Wort ist nur Beiwerk. Du hast schon die richtige Frage gestellt, warum man denn das Radio einschalten sollte, wenn man sich bedudeln lassen will. Das geht heute mittels anderer Dienste viel besser, weil individuell zugeschnitten. Im letzten Fünftel des vergangenen Jahrhunderts waren Sender wie Star*Sat Radio geradezu revolutionär, weil man durch sie erstmals die Möglichkeit hatte, beinahe ohne Unterbrechung Musik auch jenseits der eigenen Plattensammlung hören zu können, aber dafür braucht man doch heute kein Radio mehr. Was es neben Inhalten also braucht, ist eine Musikauswahl, bei der sich erkennbar jemand etwas gedacht hat, freilich trotzdem ohne zu große Stilbrüche, außer natürlich, es handelt sich um Spezialsendungen.
Und dann natürlich die von Dir angesprochene Hörerbindung, wobei ich hier noch ergänzen möchte, dass man als Vorteil des linearen Radios durchaus auch die Tatsache ansehen kann, dass es mehr als nur einen Hörer in diesem Moment gibt. Hier kommt dieser von Dir so bezeichnete Lagerfeuereffekt zum Tragen, der aber nicht nur bei Massenprogrammen auftreten kann. Eine Spezialsendung für eine ganz bestimmte Zielgruppe, deren Moderator glaubhaft vermitteln kann, ein Teil dieser Community zu sein, weil er sich mit den Hörern auf Augenhöhe unterhält, hat auch ihren Reiz.
Streamingdienste und Podcasts sind sehr erfolgreich. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass das Radio mit genau denselben Ansätzen ebenso viel Erfolg haben kann. Dafür sind die Unterschiede in Anspruch und Nutzungsverhalten dann doch zu groß. Ein Radio, das nur schlechte Kopien von Podcasts und Spotify-Playlists liefert, braucht niemand, denn der Griff zum Original ist ohne weiteres getan. Ein Radio, das sich bewusst abgrenzt und auf die ihm ganz eigenen Stärken besinnt, hat da wohl schon eine deutlich höhere Chance auf Erfolg. Sicher ist es realitätsfern anzunehmen, das Radio könne sich so wieder zu der vollen Größe aufschwingen, die es dereinst hatte, allein schon, weil sich die Hörer heute auf viel mehr Alternativen verteilen können, aber es gäbe sicherlich genug Freunde eines solchen (selbst)bewussten Radios, so dass das Medium durchaus noch eine Zukunft haben könnte.