Was waren das für Zeiten
(besonders ab 1990):
Mit einem anspruchsvollen, nicht immer linientreuen Programm erfüllte DT64 in der DDR eine wichtige Funktion als Sprachrohr der Jugendlichen. Nach dem Fall der Mauer drohte dem Jugendradio das Aus und es begann ein jahrelanger Kampf ums Überleben. Trotz massiver Proteste der DT64-Hörer scheiterte im Juni 1992 die Vision eines kritischen Jugendsenders für Ostdeutschland.
Von Antje Flemming
Aufregend waren die Monate nach dem 9. November 1989, als um uns herum Mauern fielen, die Freiheit Einzug hielt und Vertrautes zusammenbrach. Innerhalb weniger Monate existierte der Staat nicht mehr, in dem ich geboren wurde, bekamen Stadt, Schule und Straßen neue Namen oder die alten zurück, war das vorher Richtige nun falsch und umgekehrt. Zum Mittagessen im Schulkeller ging keiner mehr. Pommes mit Mayo als cooler Ersatz. Idealistisch waren wir und voller Pläne. Endlich weg von DDR-Mief, stinklangweiligen FDJ-Nachmittagen im Blauhemd und verordneten Betriebsbesichtigungen.
Wir ließen uns den Wind der Freiheit um die Nase wehen und begriffen doch bald, daß wir die Ost-Identität zu verteidigen hätten, wenn die Gleichung unserer Eltern, Freiheit gleich D-Mark plus Neuwagen plus Reise nach Rimini, nicht aufgehen sollte. Den Montagsdemos, den Endlos-Diskussionen im Unterricht, den Artikeln in der Schülerzeitung folgte eine gewisse Apathie. Das Rad der Geschichte hatte sich zu schnell gedreht. Wir waren wendemüde. Der Protest stagnierte. Dann, am 7. September 1990, lief auf zwölf der 18 Frequenzen von Jugendradio DT64 plötzlich das Programm von RIAS 1. Eine Welle der Empörung durchkochte ost-deutsche Klassenzimmer und Universitäten. Schon am nächsten Tag war DT64 landesweit wieder auf Sendung.
Sprachrohr der Ost-Jugendlichen
Mir ging es damals wohl wie vielen. Jugendradio DT64 habe ich erst als Sprachrohr begriffen, als es abgeschaltet werden sollte. Die Solidarität der ostdeutschen Jugendlichen mit dem Sender war enorm.
Mit spektakulären Aktionen, Mahnwachen in eiskalten Dezembernächten, Unterschriftensammlungen mit 80.000 Namen, Protesten im Bundestag, sollte das kritisch-kompetente, spritzige Programm des Jugendradios gerettet werden. Schließlich bescheinigte sogar DFF(1) - Abwickler Rudolf Mühlfenzl (CSU) dem Jugendradio einen "Sympathie-Effekt".(2) Genützt hat es nichts. Am 31.12.1991 um 23.58 Uhr legte Moderatorin Marion Brasch die Blankenfelder Boogie-Band auf: "Wir spielen keinen Ton mehr, aber wir kommen wieder, irgendwann...".(3) Der Rest war Schweigen. Und Erinnerung.
Doch wie kam es zu einer derart bedingungslosen Identifikation der Ost-Jugendlichen mit DT64, dem ehemaligen "Hätschelkind Honeckers", in einer Zeit, in der Rebellion in den Köpfen längst Hartgeldgeklimper in den Taschen Platz gemacht hatte?
Geboren wurde DT64 in Berlin. 1964 sendete der DDR-Rundfunk ein Serviceprogramm für die 500.000, die vom Darß bis zum Erzgebirge in die Hauptstadt gekommen waren, zum "Deutschlandtreffen von 1964". Das Treffen war nach 99 Stunden vorüber, der Name blieb und wurde Programm, anfangs mit einer wöchentlichen Sendezeit von 10 Stunden, 1990 erst mit einem 24-Sunden-Programm.
Muß man in der DDR gelebt haben, um zu verstehen, was Jugendradio DT64 den Jugendlichen bot? Im Rundfunk der DDR herrschten strikte Prozentvorgaben: Höchstens 40 Prozent der im Radio gespielten Musik durfte im "nichtsozialistischen Ausland" entstanden sein, den Rest lieferten DDR-Bands. Für uns war es eine Art Strategie, nicht auf Jörg Hindemiths "Bitte, bitte Hanni" angewiesen zu sein, sondern auch The Cure und Die Einstürzenden Neubauten hören zu können. Man wollte mitreden, anerkannt sein.
Gratwanderung zwischen Staatskonformität und freiem Denken
Aber ich greife vor. Denn schon 1965 reglementierte Erich Honecker den Jugendsender, der "einseitig Beatmusik propagiere" und "die Fragen der allseitigen Bildung und des Wissens junger Menschen außer Acht"(4) lasse. Im Zuge einer allgemeinen Verschärfung der staatlichen Kontrollmaßnahmen, bei der u. a. Wolf Biermann ausgewiesen wurde, hatte "man" ein Auge auf den Sender, in einigen Kasernen und in so mancher Familie wurde DT64 verboten. Jugendradio überlebte nur durch seine immense Popularität. Erst 1978 durfte ganze 30 Minuten lang Udo Lindenberg gespielt werden. Ein Hörer erinnert sich. "... zwei- bis dreimal in der Woche bekam der geplagte DDR-Musikfan erstklassiges Material aufs Band... Bei Udo Lindenberg mußte man schnell sein, denn es war immer eine Frage der Zeit, ob er noch mal gespielt werden durfte... Mal kam er, mal kam er nicht." (5)
Trotzdem schafften die DT64-Macher es meistens, nicht abzustürzen bei der Gratwanderung zwischen Staatskonformität und freiem Denken. Sie boten Reibungsfläche und hingen am Gängelband; FDJ-Interessen sollten stärker im Programm berücksichtigt werden. DT64 infizierte sich mit der "DDR-Krankheit Schizophrenie".(6) Einerseits mußten Leistungen zu Ehren der Republik belobhudelt werden, andererseits dröhnten die Rolling Stones und Frank Zappa aus den Boxen. Trotzdem sendete DT64 bis zum Ende der DDR ein anspruchsvoll-informatives Programm, nutzte geschickt Nischen aus. Progressive DT-Sendungen wie "Parocktikum" etablierten sich bald im Programm, auch wenn die Gestaltung oft vom Zufall abhing: "Immer wenn gerade mal ein Bekannter mit Reisemöglichkeiten Zeit und Lust hatte, in Westberlin einen Plattenladen aufzusuchen, war die Programmausschüttung ergiebig."(7)
1987 wurde Berlin 750 Jahre alt. DT64 übertrug Konzerte internationaler Gratulanten. Im gleichen Jahr zog der Sender um, in einen neuen Studiokomplex mit verbesserter Technik. 1988 konnten DDR-Jugendliche "Artists Against Apartheid" aus dem Wembley Stadium hören. Die DT64-Reporter kommentierten live aus London.
Produktive und streitbare Jahre
Im Sommer 1989 dann brach die untergründig schwelende Unzufrieden-heit der DDR-Bürger hervor: Tausende überquerten die ungarisch-österrei-chische Grenze.(8) Im September endlich verfaßten Mitglieder des Komitees für Unterhaltungskunst eine Resolution, die die "unerträgliche Ignoranz der Partei- und Staatsführung"(9) anprangerte. Der Stein war längst ins Rollen gekommen, der den "real existierenden Sozialismus" zerschlagen sollte, auch wenn das Unterzeichnen des Papiers noch einen Akt persönlicher Courage bedeutete. An Oktobermontagen demonstrierten Tausende. Am 8. November erklärten über 100 Mitarbeiter von DT64 der bisherigen Chefredaktion das Mißtrauen. Ab 9. November gab es keine Mauer mehr. Am 11. November meldeten sich die "Morgenrock"-Reporter vom Ku'damm. Mit einem "heißen Draht zu den Hörern" (10) und einem "kultivierten, politisch engagierten Programm" (11) begannen für DT64 produktive und streitbare Jahre. Die letzten seiner Geschichte.
1990 war für Jugendradio das Jahr der Höhen und Tiefen. Oben: Neun Tage mit Top 2000 D, der längsten Hitparade der Welt, mit Sinead O'Connors "Nothing compares to you" auf Platz 1 und "True love" von Bing Crosby auf dem 2000. Platz. Unten: Abschaltung am 7. September. Der amtierende Hörfunk-Intendant Christoph Singelnstein (SPD) brachte mit dem "schwarzen Freitag" DT64 in die Schlagzeilen. Was blieb, war tiefes Mißtrauen und ein Publicity-Erfolg für Jugendradio. Inzwischen stand fest, wie der Rundfunk der ehemaligen DDR zu rationalisieren sei.
Auch DT64 brachte einen Vorschlag (12) ein: Drei Landesrundfunkanstalten, ein überregionaler Nachrichten- und ein Jugendkanal sollten zukünftig senden. Explizit sah Jugendradio seinen Auftrag darin, den sensiblen Vorgang der deutsch-deutschen Einigung für die junge Generation als Chance eigener Zukunftsgestaltung mit den Erfahrungen in DDR und BRD zu fördern.(13) Im Verlaufe des Jahres allerdings wurde immer klarer, daß ein überregionales Jugendradio keine Chance haben würde, auch nicht bei einer privaten Anbietergemeinschaft: "Immer wieder griff folgender Mechanismus: Kein Landesmediengesetz - keine Landesmedienanstalt - keine Lizenzierung möglich - kein DT64."(14) Pro-DT64-Schreiben von Politikern und Medienexperten füllten bald Archive. Die Medienpolitik jedoch versagte. Der DDR-Hörfunk galt als "überdimensioniert und nicht mehr finanzierbar."(15) Mehr als zwei Sendeanstalten waren anscheinend nicht zu realisieren.
DT64 als Piratensender
Im Herbst 1991 horchten DT-Hörer erstaunt auf: "Wegen der Temperatu-ren unter dem Gefrierpunkt ist die Elbschiffahrt zum Erliegen gekom-men..." Im September? Für einige Stunden sendete DT64 als Piratensen-der, simulierte mit einer Live-Ü-Wagen-Aktion den 31.12.1991 und die Probe des Ernstfalls. Mit dem längsten Hörspiel der deutschen Radioge-schichte wurde deutlich, was die Abschaltung des Senders bedeutete. Allein in Dresden gingen Zehntausende für DT64 auf die Straße, in Chemnitz entstand der Freundeskreis des
Jugendradios, sogar Bundestagsmitglieder unterschrieben für den Sender, "Power von der Eastside" wurde Schlagwort. Der Kampf um DT64 war eine der phantasievollsten und energischsten Bürgerbewegungen in der ehemaligen DDR. Endlich erklärte sich der MDR bereit, DT64 für ein halbes Jahr auf der alten Frequenz auszustrahlen. Am 31.12.1991 verabschiedete sich DT64 von den Hörern in Mecklenburg-Vorpommern, denn der NDR war zu einer befristeten Ausstrahlung des Jugendprogramms nicht bereit.(16) In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sendete DT64 nun als Jugendradio des MDR auf neuen UKW-Frequenzen weiter, auf den vier ORB-Frequenzen wurde das Programm täglich für drei Stunden für das ORB-Jugendmagazin Rockradio B(17) unterbrochen.
Das symbolische Ende von DT64
Im Juni 1992 entschied der MDR-Rundfunkrat das symbolische Ende von DT64: Vom 1. Juli bis 31. Dezember sollte Jugendradio auf Mittelwelle 1044 kHz senden. Noch wehrten sich die Mitarbeiter, denn es stand fest, daß "den Menschen in den neuen Bundesländern wiederum von außen ein neuer Rundfunk verpaßt"(18) werden sollte. Am 18. Juni schallte für einen Tag Superradio 2000 durch den Äther, die Fiktion eines Privatsenders, Motto: "Gute Laune, wann immer Sie wollen." DT64 prophezeite, was die Hörer künftig auf der Frequenz des Senders zu erwarten hätten. Ab 1. Juli war die Sendequalität auf Mittelwelle im MDR-Sendegebiet deprimierend, dafür gingen Empfangsbestätigungen aus Irland, London, Prag, Tirol, Korsika, Belgien, Schweden und vom Balaton ein. Im November beschloß der MDR, das Jugendprogramm ab Mitte 1993 über Satellit auszustrahlen, seit Januar 1993 produzierte das Jugendradio in Halle. Seit Sommer 1993 sendet der Jugendsender unter dem neuen Namen MDR-Sputnik. Die Vision des kritischen Jugendsenders für Ostdeutschland fiel der Medienpolitik im vereinten Deutschland zum Opfer.
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