Berliner Zeitung vom 13.09.2003
Im Radio werden viele Sendungen vorproduziert. Der Hörer ahnt nichts
Christoph Schultheis
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Viele mögen das: wenn morgens der Radiowecker anspringt und im Radio immer schon ein paar putzmuntere Morningshow-Moderatoren ihre Witzchen machen. Oder nachts: Wie tröstlich ist der Gedanke, dass irgendwo in einem schwach beleuchteten Studio noch ein Moderator vorm Mikro sitzt, der den Schlaflosen mit warmer Stimme durch die dunkle Einsamkeit trägt. "Für euch da draußen" seufzt er in die ersten Takte von Jennifer Rushs "Power of Love ."
Wie ernüchternd ist indes die Vorstellung, der Moderatorenstuhl im Sender sei verwaist, jedes "Für euch" schon am helllichten Tag vorproduziert. Und was wäre, wenn die Albernheiten der Morgencrews schon am Vortag aufgezeichnet wurden und die vermeintlichen Frühaufsteher selber noch friedlich in ihren Betten liegen, während im Radio schon ihre Sendung läuft? Was also, wenn die Sendungen nur als Datenstrom aus dem Computer kämen, der Musik- und Moderations-Files, Jingles, Zeitansagen, Werbeclips unmerklich ineinander mischt? Technisch möglich ist das. Voice-Tracking nennt sich das digitale Verfahren (siehe Kasten), mit dem sich eine Fünf-Stunden-Sendung mühelos in 90 Minuten vorproduzieren lässt, ohne dass der Hörer einen Unterschied zur guten, alten Live-Sendung feststellt.
Man spricht nicht gern darüber
Doch anders als im Fernsehen, wo die "Harald Schmidt Show" beispielsweise selbstverständlich bereits Stunden vorher aufgezeichnet wird und sogar die "Tagesthemen" manches vorab geführte Interview geschmeidig in den Sendeablauf einfügen, ist Voice-Tracking im Radio ein sensibles Thema. Schließlich wird Radio immer noch als Live-Medium wahrgenommen. Wie kein anderes vermittelt es ein Gefühl der Unmittelbarkeit und Intimität. Wenn im Radio einer spricht, erwartet man, dass er es auch exakt zur gleichen Sekunde im Studio tut.
Doch das ist nicht immer so. Denn nicht nur in den USA, dem Ursprungsland des automatisierten Radios, nein, auch hier zu Lande hat das Voice-Tracking längst Einzug gehalten. Man spricht nur nicht gern darüber, erst recht nicht in Berlin mit seinem hart umkämpften Radiomarkt. Radiodienstleister wie die fränkische Firma Creative FM, die auf ihrer Website ganz offen damit werben, dass sie "als erstes Audio-Unternehmen in Deutschland vollständige Radio-Shows im Voice-Tracking-Verfahren" produzieren, sind selten. Berliner Radio-Profis geben zwar bereitwillig Auskunft, möchten aber nicht zitiert werden, auch wenn sie letztlich alle dasselbe sagen: 1. Voice-Tracking sei zweifelsohne eine Irreführung der Hörer. (Manche nennen's auch "Verarschung".) 2. Voice-Tracking sei in ganz Deutschland (auch in Berlin) gang und gäbe, jedenfalls im Privatradio. 3. Wirtschaftliche Zwänge machten Voice-Tracking oft unumgänglich. 4. Voice-Tracking mache Radioprogramme noch austauschbarer, biete aber auch die Chance, Programme durch angekaufte Sendungen mit Starmoderatoren aufzuwerten. 5. Aus Angst vor der Unbill der Hörer sei es nicht verwunderlich, wenn Senderchefs den Einsatz von Voice-Tracking leugnen.
Vor allem nachts sind in Berlin fast alle Privatsender mehr oder weniger unbesetzt. Und bei kleineren Stationen wie Spreeradio, wo die Musik in den Nachtstunden ohnehin gänzlich auf Moderationen verzichtet, gibt man das auch offen zu. Bei Jazzradio ist es ähnlich. Privatsender wie Energy hingegen besitzen zwar die technischen Möglichkeiten, Sendungen vorzuproduzieren, setzen sie aber angeblich nicht ein. Oder 104.6 RTL: Dort, so heißt es, werden mittels Voice-Tracking täglich zehn Stunden Programm hergestellt - aber nicht für Berlin, sondern für das HitRadio in Karlsruhe. Dass die in der Hauptstadt so beliebte RTL-Sendung "Arno und die Morgencrew" mit Programmdirektor Arno Müller mit einer ähnlichen Technik zumindest teilweise vorproduziert werde, bleibt indes ein oft gehörtes Gerücht.
Moderator Müller lacht, wenn man ihn darauf anspricht: "Ach, wissen Sie ." Und dann erzählt Müller die Geschichte, wie er vor fünf Jahren in L.A. war und dort auf KISS FM die Morningshow seines berühmten Kollegen Rick Dees hörte. Und weil er mit Dees befreundet sei, habe er noch während der Show beim Sender angerufen, um sich mit ihm auf "'ne Runde Golf" zu verabreden. Doch beim Sender sagte man, Dees sei im Urlaub auf Hawaii . "Ich war fasziniert", sagt Müller verschwörerisch. Dann spricht der Moderator, der jährlich bis zu 180 Morningshows moderiert (ab 5 Uhr morgens zu hören) noch von "Produktionsgeheimnissen" und vom "Theater im Kopf" des Hörers, das man nicht kaputtmachen dürfe. Zumal bei einer gut gemachten Sendung keiner unterscheiden könne, ob der Moderator tatsächlich im Studio sitzt oder nicht.
Kritiker des vorproduzierten Radios sind da anderer Ansicht. Man müsse nur genau hinhören: Wenn sich der Moderator beispielsweise nie verspricht, wenn nie eine Tasse im Hintergrund scheppert und wenn Verkehrshinweise, Wetter oder Nachrichten von einem anderen Sprecher kommen, dann könne es sein, dass die Sendung nicht so live ist, wie sie vorgibt. Wer's nicht glaubt, könne ja spaßeshalber mal beim Sender anrufen und sich die Ausreden anhören, warum der Moderator im Augenblick leider nicht ans Telefon kommen könne.