Unsere üblichen Messmethoden liefern uns pausenlos detaillierte Daten über alles, was uns zu interessieren hat: Wir erfahren, wer wann zuschaut. Das ergibt die Quote, wie sie publiziert wird. Wir wissen aber auch alles über Alter, Geschlecht, Berufsgattung, Schulbildung, Zugehörigkeit zu einer soziologischen Gruppe und Einkommen unserer Zuschauer. (...) Nur etwas ist nicht bekannt: Wie schauen sich die Zuschauer unsere Sendungen an?
Im Gegensatz zu den elektronisch erfassten objektiven Daten, welche die GfK erhebt, muss man bei dieser Fragestellung einen ganz anderen Weg gehen. Hier gibt es eigentlich nur die Möglichkeit der direkten Beobachtung mittels einer Videokamera, die für einmal auf die Adressaten und nicht die Absender von Fernsehen gerichtet wird. (...)
Für dieses Projekt suchte das Forschungsinstitut Personen, die sich selbst als Stammzuschauer von Sat.1 bezeichnen und ihren Fernseher vier Stunden und mehr pro Tag eingeschaltet haben. Diese Leute mussten bereit sein, sich für einen Eingriff in ihre Privatsphäre zu öffnen. Natürlich handelt es sich dabei bloß um eine Annäherung an die reale Situation des Fernsehkonsums, denn die Präsenz von Drittpersonen in der eigenen Wohnung, zumal hinter einer laufenden Kamera, dürfte das übliche Verhalten beeinflussen. (...)
Die Bilder, die wir dann trotz diesen Einschränkungen vorgeführt bekamen, waren für mich schockierend, beinahe brutal. Zum ersten Mal sahen wir das Objekt unserer Begierde – den Zuschauer – dem unser ganzes Denken und Wirken gehört, in Fleisch und Blut, wie er sich konkret mit unserem Programm auseinandersetzt. (...) Die nun erlebte und wahrscheinlich noch geschönte Realität konfrontierte uns mit Bildern, die in ihrer Direktheit und Ungeschminktheit selbst den letzten Rest von Glamour zerstörten, mit der wir unsre von uns selbst als so bedeutend eingestufte Tätigkeit gerne umfloren. Zwar war uns allen bweusst, dass Fernsehen vorwiegend als Flüchtigkeitsmedium wahrgenommen wrid, schließlich sind wir Fernsehmacher auch Fernsehkonsumenten. Die Konfrontation mit unserer wichtigsten Zielgruppe traf uns in ihrer Radikalität dann doch völlig unvorbereitet.
Eine Szene: Eine Familie sitzt am Tisch in der Wohnstube und isst. Im Hintergrund läuft halblaut der Fernseher. Hie und da blickt jemand zum Bild, manchmal wird das Programm kurz kommentiert oder es wird gelacht. Alles verläuft parallel. Offensichtlich ist dies eine Form des Lebens, die man bewusst gewählt hat. Es ist die Normalität. Dann klingelt es an der Tür. Besuch kommt. Der Fernseher läuft weiter, ohne dass dies von jemandem als störend empfunden wird. Dann wird von jemandem kurz etwas über die laufende Sendung gesagt, dann geht das Gespräch zurück zu persönlichen Belangen. Und so vergeht die Zeit, einige Sekunden Aufmerksamkeit für eine Sequenz im Fernsehen, dann wird wieder miteinander geredet. Das ist das Prinzip, von Morgen bis am Abend.
Eine zweite Szene: Die Mutter in Joggingkleidung hat sich mit ihrem etwa zehnjährigen Sohn aufs Sofa gefläzt. Der Fernseher läuft. Gemeinsam sehen sie ein Programm, doch gleichzeitig gibt es eine andere Form der Kommunikation. Die Mutter versucht, mit ihrem Sohn körperlichen Kontakt aufzunehmen. Sie nutzt diese Situation der Ablenkung durch den Fernseher, um ihre mütterlichen Bedürfnisse abzudecken. Der Sohn weist diese Versuche mit Bewegungen immer wieder ab. erst als ihn eine Szene besonders zu faszinieren scheint, gelingt es seiner Mutter, seine Hand länger als nur einige Sekunden halten zu können.
Oder: Mann und Frau im Zimmer. Der Fernseher ist eingeschaltet, an der gegenüberliegenden Wand auch ein eingeschalteter Computer, vor dem der Mann sitzt. Während sich die Frau dem Fernsehprogramm widmet, wandert der Blick des Mannes ständig zwischen den beiden Geräten hin und her.