AW: Das Wort zum Dienstag
Woher die Sicherheit, was die völlige Inkompatibilität betrifft? Ich habe da mal andere Erfahrungen gemacht.
Ich bin freilich auch schon Menschen begegnet, die sich Klassik und Punk reinfahren (um mal ein Extrem zu nennen), aber es sind wenige. Die meisten, die ich kenne, sind in einer Welt zu Hause - und nur in dieser. Und das quer durch alle Altersklassen und Bildungsabschlüsse. Natürlich, die "allseitig gebildeten und interessierten" Zeitgenossen gibt es auch. Oft hatte ich das Gefühl, sie tun dies, um einer Erwartungshaltung zu entsprechen, denn es wirkte aufgesetzt.
Zugegeben: Wo – womöglich aus anderen Erfahrungen heraus – von der Grundannahme völliger Inkompatibilität ausgegangen wird, dürften auch kaum Chancen darauf bestehen, einmal von der routinierten Nichtbeachtung abzurücken und die vermeintliche Wahrheit (die wahrlich eine bittere wäre) in Frage zu stellen.
Falls Du auf mich privat und meine kulturelle Sozialisiation ansprichst: meine Kultur habe ich mir immer gegen den Willen jeglicher "Autoritäten" erkämpfen müssen. Für meine Eltern war (und ist, letzteres ist mir in meinem Alter aber wurscht) meine Musik immer "Gejaule" oder "Krach". Knarf Rellöm hatte wohl ganz ähnliche Erfahrungen gemacht und einst
vertont. Der Unterschied zu mir: er hat es dann offen ausgelebt, ich bin daheim geblieben und habe den Kopfhörer benutzt. Im nachhinein betrachtet nichtmal die schlechteste Variante, mir ist einiges erspart geblieben (Alkohol, Drogen, ...).
In der Schule mußte man Klassik mögen und positive Aussagen heucheln, denn darauf gab es gute Zensuren. Ich habe Musik abgewählt, sobald die Möglichkeit dazu bestand (naturwissenschaftliches Spezialgymnasium mit deutlich zurückgefahrenem "musischen" Angebot). Und im Radio, um aufs Thema zurückzukommen, spiegelt sich doch inzwischen nur wieder, was in der "Gesellschaft" Konsens ist: willst du "Kultur", mußt du "Klassik" nehmen. Alles andere ist keine "Kultur" und darf dem kommerziellen Vergleich zum Fraß vorgeworfen werden. Genau so laufen MDR und hr (sonst hätte man Walter und Rebell nicht abgesägt, sondern auf hr2 gepackt, denn die beiden standen für Radio mit Niveau, also Kultur).
Und da zeige ich - sorry - den Stinkefinger. Ich bin der vielleicht etwas vermessenen Auffassung, die gleichen Rechte und Freiheiten zu genießen wie andere, obwohl ich kein Klassikhörer bin. Und damit ist Klassik schon aus Prinzip raus und einiges andere auch. Daß ich mit Klassik wirklich nichts anfangen kann und es bei mir Aggressionen und Unbehagen auslöst, weil es die Kultur meiner "Disziplinierer" ist, kommt mir da nur entgegen. Ich muß also nicht einmal gegen meinen Fluchtreflex handeln. Muß ich wirklich einmal auf ein Klassikkonzert (letztens mußte ich), rette ich mich über die Zeit, indem ich nur auf die technischen Aspekte achte: das beste HiFi ist halt live. Ich sehe dann tatsächlich RTWs vor meinen geschlossenen Augen, ich spüre Dynamik und ich denke darüber nach, wie ich das jetzt mikrofonieren würde und mit welcher Aussteuerung man da wohl rangehen müßte.
Aus dem gleichen Grund (abgelehnte Autoritäten) laufe ich nur zur allergrößten Not im Anzug herum. Andre sind stolz auf dieses Outfit, für mich hat es was von Häftlingskleidung. Wenn möglich, ziehe ich mich erst unmittelbar vor dem Anlaß um. Eine halbe Stunde vor meinem Rigorosumsvortrag saß ich in zerrissenen Jeans vor dem Institut auf der Treppe und sammelte mich. Es gibt nichts besseres, als sich diese Freiheit herauszunehmen.
Damals bei Radio Brandenburg hat es verdammt gut funktioniert, die vermeintlich inkompatiblen Welten in ein und demselben Programm abzubilden.
...mir blieben davon nur Mitschnitte, ich wohnte damals nicht in Berlin und RaBra war nicht auf Satellit. Es wäre durchaus spannend gewesen, wie ich auf die Mixtur reagiert hätte, zumal dort ja beide "Fraktionen" mit Respekt behandelt wurden. Genau das finde ich nicht bei den heutigen Wellen. Die "Kulturwellen" gehen mit Popkultur oft um wie mit einem Aussätzigen. Oder sie leugnen sie komplett.
Von wann ist der Eindruck? Und sicher, da nicht „Belrin“ reinzuprojizieren?
Der Eindruck entsteht bei mir immer wieder. Dazu reicht schon das nervige Teasing für diese oder jene schöne Party - natürlich "nur für Erwachsene". Ich habe danach meist schon fertig und das Radio aus. Ich definiere mich nicht über so etwas. Daß ich sämtliche Doppelmoderationen im Tagesprogramm nie mochte, ist ja bekannt.