AW: Die letzten 30 Minuten von DT64 auf UKW am 30.06.1992
Ganz schwierige Sache. Ich mag auch nicht aus der Zeit von vielleicht 1989 - 1991 auf 2007 extrapolieren. Zu viele Varianten wären möglich. Bitte beachten: allgemein hat Radio an Stellenwert verloren, ist nicht mehr der Begleiter für einsame Stunden bzw. teilt sich diesen Platz mit unendlich vielen Möglichkeiten, die es (zumindest im Osten) so in den Wendejahren noch nicht gab. Welcher 18-jährige hatte damals ein Auto, um seinen Abend nicht bei den Eltern aufm Dorf verbringen zu müssen? Internet gab es schon gleich gar nicht - weder als Medien-Ersatz (für die einsamen Stunden) noch als Mittel, einsame Stunden gar nicht erst entstehen zu lassen.
Die Wege, die junge Menschen gehen können, sind heute vielfältiger als damals, das Zusammengehörigkeitsgefühl - und sei es das, daß man einfach nur "in der gleichen sozial beschissenen Lage" ist (Zitat Lutz Bertram) - ist nach meinem Empfinden deutlich geringer ausgeprägt. Man "braucht" heute normalerweise das Radio als Begleiter nicht mehr. Die damaligen Hörer sind heute alle im erwerbsfähigen Alter und dürften, so sie denn einen Job haben, kaum noch zum Radiohören kommen. Der Nachwuchs hätte sicher kaum den Sender seiner Eltern gehört. Hätte sich DT64 an den Nachwuchs angepaßt, würde es heute freilich deutlich anders klingen als damals. Ob das Programm mit langen Wortstrecken, kritischen Wortbeiträgen und schräger Musik Nachwuchs hätte binden können - keine Ahnung. Mir scheint sogar so, als ob inzwischen allgemein eine gewisse Unlust eingesetzt hat, überhaupt noch in der für die Wendejahre typischen Schärfe journalistisch auf gesellschaftliche Mißstände hinzuweisen. Die meisten haben ihre Nische gesucht, in der sie ohne allzuviele Schmerzen irgendwie halbwegs erträglich existieren können. Das war 1990/91 anders.
FM4 zeigt vermutlich, wie es im besten Falle hätte ausgehen können. N-Joy und über lange Zeit Sputnik zeigt, wie der schlimmste Fall aussieht. Sputnik heute zeigt, wie schwer es ist, mit Inhalt zu punkten (gut, bei Sputnik passen andere Dinge nicht so recht).
Der abenteuerliche Musikmix aus dem Hitglobus war zwar Charts-geschuldet, aber die Sendung hätte es nicht gegeben, wenn sie nicht beabsichtigt gewesen wäre.
FM4-Charts klingen deutlich anders und belegen, daß das ganze Programm anders ausgerichtet ist. Bei DT64 gab es allerdings damals nur ein Gesamtkonzept: Individualisten machen abends Radio, Tags "mäßigt" man sich und spricht bereitere Schichten an. Ich hatte je nach verantwortlichem Musikredakteur (!) tagsüber 1991 manchmal absolute Glücksgefühle (viel Indie) und manchmal dachte ich, als ich aus der Schule kam und das Radio anmachte, "scheiße, die sind abgeschaltet worden und da ist ein anderer Sender drauf." DT64 war kein "Indie-Radio" oder "Alternativ-Radio" und schon gar kein "Rock-Radio", zu dem es die Marketingleute des MDR nachträglich erklärt haben, um Sputnik zu rechtfertigen. Es gibt einen Mitschnitt (AFAIR von 9/1990), in dem Lutz Bertram das damals noch existierende Radio 100 in Berlin als "oberschräg" bezeichnet und sehr wohl durchblicken läßt, daß man sich als Alternative dazu verstehe, keinesfalls als Konkurrenz.
Man sollte in Bezug auf den Hitglobus beachten, dass das ein Abbild der aktuellen Charts war.
Die erste Stunde schon, aber selbst die war aufgrund der wenigen gespielten Titel doch eine Redaktionsauswahl aus einem dreistelligen Titelpool. Die zweite Stunde waren Hörercharts, und wenn die Hörer das so nicht gevotet hätten... New Kids on the Block, Army of Lovers, in den 80ern auch Sandra und all der andere Charts-Kram waren somit Hörerwunsch! Schau Dir dann noch die
"Top 2000D"-Liste vom August 1990 an und die doch erheblichen Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Ost und Südwest. DT64-Top10: Depeche Mode, Sinead O'Connor, New Kids on the Block, Sandra, Snap, Depeche Mode, Depeche Mode, New Kids on the Block, Nick Kamen, Roxette. SDR3-Top10: Dire Straits, Led Zeppelin, Pink Floyd, Sinead O'Connor, Billy Joel, Phil Collins, Rolling Stones, Alannah Myles, Alice Cooper, Phil Collins. Klarer Fall - bei DT64-Hörern fehlte komplett die Erinnerung an Titel, die nicht innerhalb der letzten paar Monate in den Charts waren. Bei SDR3 gab es einen Mix aus gemäßigten Charts-Titeln und Rock-Klassikern.
Die E.A.V. kam ansonsten im DT64-Programm eher nicht vor.
Stimmt, das Tagesprogramm war Redakteurs-verantwortet und konnte aber massiv schwanken. Abends waren sowieso Spezialsendungen, die für mich den musikalischen Reiz von DT64 ausmachten. Tagsüber lag der Reiz für mich 1990/91 eher im "seht her, ich höre DT64!" In meinem Lebensumfeld hatte RIAS2 dann keinen Platz mehr, ich definierte mich anders, gehörte zu einer Gruppe mit anderem Lebensgefühl. Ich wollte nicht mehr "in" sein wie mit 14 (da war ich RIAS-2-Hörer), sondern eher anecken. Das wäre mit RIAS 2 nicht mehr gegangen. So einfach ist das manchmal...
Es gab damals durchaus schon Probleme innerhalb der Hörerschaft mit dem Musikprogramm und der Gruppenzugehörigkeit. Irgendwann 1990 machte DT64 eine Live-Disco in Dresden mit Übertragung im laufenden Programm. Der Club, in dem das stieg, war eher der Antifa-Ecke zuzuordnen - eingepackt hatten die ahnungslosen Redakteure allerdings viel aktuelle Charts. Die Grabeskälte der dortigen Atmosphäre war on air deutlich zu hören. Als dann "ein Titel von Rio Reiser" anmoderiert wurde, ging endlich Johlen durch die Masse, welches ganz schnell wieder verstummte, da es eine Coverversion eines Reiser-Titels war...
Es geht bei jungen Leuten doch fast immer stark um Abgrenzung und Zugehörigkeit, nicht um absolute "Qualität" (so es die überhaupt gibt). Die "Qualität wird vielmehr zu einem großen Teil nach der "Lebensumfeldskompatibilität" oder "Abgrenzungseignung" individuell definiert. Also: Nirvana ist gut, Thake That ist scheiße - dazu gehört dann auch das entsprechende Outfit (zumindest im Kopf). Umgekehrt freilich genauso. Und dabei war völlig egal, daß Kurt Cobain nicht singen konnte...
Und das dir ein paar Titel in dem Mitschnitt "gegen den Strich gehen", obwohl sie ausnahmslos alle nur angespielt wurden, zeigt eigentlich, wie abgestumpft oder von mir aus auch intolerant wir alle inzwischen sind gegenüber "anderer" Musik.
Also gegen Army of Lovers und Maffay bin ich nicht abgestumpft, sondern eher so scharf wie das Messer, das dabei in meiner Tasche aufgeht...
Interessant ist allerdings die Frage nach einer eventuellen Intoleranz. Wo kommt die Abneigung gegen bestimmte Musik her? Daher, daß man sie zu oft aufgezwungen bekommen hat? Daher, daß man sich wehren will, aufgrund seiner nicht-Ablehnung bestimmter Musik in bestimmte Image-Schubladen gesteckt zu werden? Ich gerade dauernd in solche Schubladen, weil ich einen Stapel Punkplatten im Schrank habe, aber auch gerne House und Electro höre und z.B. die Flowerpornoes oder Joni Mitchell mag...
Aber ich behaupte mal, dass weite Teile des damaligen Programms heute noch eine große und feste Anhängerschaft hätten.
Haben sie doch auch - weiterentwickelt, aber von den gleichen Leuten verantwortet in Form von Radio Eins: Marion Brasch, Holger Luckas, Knut Elstermann, Jörg Wagner, ...
Aber je mehr Mitschnitte mir in die Finger kommen, um so öfter komme ich zu dem Schluß, dass es kein anderes deutsches Radioprogramm gab, dass jemals so nah am Hörer war wie DT64.
Das mag sein. Vielleicht aber auch, weil es im Annektionsgebiet einfach nur eine riesige Verwirrung und Unsicherheit unter den Menschen gab, verbunden mit der Suche nach einem vereinenden, übergreifenden Etwas, das man in Form von DT64 fand.
Andererseits: wenn der Wilde Süden Sechstageradio machte, waren da unten auch ganze Dörfer dermaßen von was auf den Beinen...
Vielleicht wurde es gerade deshalb ausserhalb von Neufünfland so argwöhnisch betrachtet.
Ich hatte eher das Gefühl, es wurde von innerhalb argwöhnisch betrachtet. DT64 hatte seine Feinde im eigenen Land - alljene, die hinter jedem noch nicht abgewickelten und entsorgten Ostdeutschen einen Kommunisten oder Stasi-Folterer sahen. Diese ostdeutsche Neurose, zu der ich bislang kein westdeutsches Gegenstück gefunden habe, ist bis heute in Politik und Gesellschaft, aber auch im gemeinen Volk im Osten tief verankert. Da rennen immer noch CDU-Leute herum, die damals Jugendpolitik machten und für die Sputnik (!) all die Jahre (!!) immer noch "Kommunistenradio" (!!!) geblieben ist - auch in der Zeit, als man ausschließlich RnB-Soße mit dummen Lifestyle-Sprüchen servierte. Da tritt ein 32-jähriger auf ner alternativen Liste zur Kommunalwahl für den Stadtrat an, für den jeder, der heute noch Arbeit hat und im passenden Alter ist, "Stasi" war und ist. Als er hätte von der Stasi bedroht werden können, war er 14 oder maximal 16 und bekam von alldem in seiner unbekümmerten Kinderzeit erwiesenermaßen nichts mit. Da gehen wirklich sehr schräge Dinge in den thüringer Kleinstädten.