AW: Zukunft des Hörfunkjournalismus?
Liebe Freunde, ich habe auch den Eindruck, dass hier gewaltig aneinander vorbei geredet wird.
Ob ich Rauschen, Musik, oder sonstwas unter einen Beitrag mische, ist doch letztlich erst einmal eine Frage der Situation bzw. der Zeit.
Man sollte unterscheiden zwischen einem Feature nach D-Radio-Art, dass in mühevollen Stunden zusammen gefrickelt wird, und der aktuellen Berichterstattung draußen vor Ort.
Das sind zwei handwerklich völlig unterschiedliche Facetten des Hörfunkjournalismus.
Wenn ich an einem Feature bastle, dann habe ich die Zeit, mir Gedanken zu machen, was ich druntermischen könnte, dann kann ich verschiedene Geräusche aus dem Archiv testen oder gar eigene anfertigen.
Bin ich aber vor Ort und soll dem Hörer möglichst bald einen Sachverhalt schildern - also als klassischer Reporter - dann kommt es in erster Linie auf die Geschwindigkeit an - und ich werde eher auf einen "Effekt" verzichten und statt dessen nach zusätzlichen Fakten, Formulierungen oder O-Tönen suchen.
Zur Diskussion stelle ich mal meine persönliche Abgrenzung des Hörfunkjournalismus im derzeitigen Alltag:
KEIN Journalismus ist für mich das Stehen am Roten Teppich einer Veranstaltung, um O-Töne von so genannten Promis einzufangen, um später on air damit glänzen zu können "ich habe mit DJ Pickelfresse persönlich gesprochen". Das ist für mich Transport oder sogar Produktion von PR.
Auch ein Interview mit einem wahlkämpfenden Politiker muss nicht journalistisch sein - wenn z.B. der aktuelle Sender-Praktikant rausgeschickt wird ("hol doch mal eben einen O-Ton von dem Schily, der gibt da ne PK") und jener Praktikant dann brav die O-Töne aufnimmt und anschließend auf sendefähige Länge schneidet.
Nein, der Journlismus fängt für mich da an, wo Kompetenz ans Tageslicht kommt. Kompetenz im betreffenden Sachgebiet. Die Fähigkeit, die Aussage einzuordnen. Eine Gegenfrage zu stellen, die den Befragten dazu zwingt, aus seinem vorformulierten Schema auszubrechen.
O-Ton holen, schneiden, Text formulieren, selbst sprechen, live sprechen - all das ist Handwerk.
Der Journalist unterscheidet sich vom Radio-Handwerker dadurch, seinem Gesprächspartner im Idealfall fachlich ebenbürtig zu sein, zumindest aber, sich so weit in ein Thema eingearbeitet zu haben, dass er Geschwafel entlarven kann und eine dem Hörer nützliche Aussage erzwingen kann - und nicht eine, die nur dem Aussagenden nutzt.
Journalismus betreibt der kompetente Reporter vor Ort, der in der Lage ist, nachzufragen, weil er verstanden hat, was zuvor gesagt wurde.
Journalismus betreibt der Nachrichten- (Lokal-, Politik-, Sport- etc.) Redakteur, der Aussagen einordnet, Gegenpositionen einholt und vielleicht sogar zusätzliche Fakten herausfindet.
Ein Journalist kreiert auch gelegentlich mal ein Thema und arbeitet nicht nur die Terminlisten ab.
Und all das hat natürlich auch mit Zeit zu tun. Wenn ich in jeder Stunde einen Beitrag zu immer wieder neuen Themen abliefern soll, kann ich nicht journalistisch arbeiten, weil mir die Zeit zur Recherche fehlt. Dann arbeite ich rein handwerklich.
Beispiel: Ich sitze auf einer Bilanz-PK eines Unternehmens. Der VV liest die Zahlen des abgelaufenen Geschäftsjahres runter. Der Reporter schneidet alles mit und kürzt den O-Ton am Ende auf sendefähige Länge, schickt das Produkt in die Nachrichtenredaktion und gibt dem Redakteur noch mit auf den Weg "Der VV hat eine Gewinnsteigerung von 20% vermeldet." Der Newsmensch schreibt: "Firma XY hat ihren Gewinn im vergangenen Jahr um 20% gesteigert, wie der VV heute auf der Bilanz-PK vermeldete" + O-Ton.
Das ist Handwerk.
Gegenbeispiel: VV liest Zahlen vor, Reporter weiß, das Firma XY vor zwei Jahren wesentlich mehr verdient hat, im Vorjahr einen Gewinneinbruch hatte, und dass 20% Steigerung zum schlechten Vorjahr eigentlich weit weniger ist als erwartet. Reporter fragt nach, warum denn die Rückkehr zu den Zahlen von vor zwei Jahren nicht gelungen sei, wie ursprünglich angekündigt. VV muss zähneknirschend zugeben, dass man immer noch zu viele Beschäftigte hat und wohl noch ein paar hundert Stellen abbauen muss.
Wird zwar wohl nie GENAU so passieren - aber prinzipiell ist das für mich Journalismus.
Und, um auf die Eingangsfrage zurückzukommen, das ist die Form von Journalismus, die leider immer stärker zurückgedrängt wird.
Natürlich gibt es weitere Formen, wie den Moderator, der mir Hintergründiges zu einem Titel oder einem Künstler erzählen kann etc.
Das Entscheidende in meinen Augen ist "Recherche", ein Arbeitsgebiet, für das immer weniger Personal und immer weniger Zeit zur Verfügung steht - und das nicht nur bei den Privaten.
(Und jetzt hoffe ich, dass überhaupt jemand die ZEIT hat, diese Ergüsse zu lesen
)