AW: Bundestagswahlen 2005
Um nach all den verfahrensrechtlichen Dingen auf eine der Ausgangsfragen zurückzukommen: ich erwarte - egal unter welcher Regierung - weiterhin ein verzweifeltes Festhalten an Dingen, die der Realität nicht entsprechen. Zum Beispiel an der Illusion deutlich geringerer Arbeitslosenzahlen. Keine Regierung wird das jemals wieder langfristig hinbekommen - der Zug in Richtung weniger Arbeit ist global längst abgefahren. Und jeder Versuch, zu mehr Arbeit zu kommen, dürfte den Prozeß nach einem kurzzeitigen scheinbaren Erfolg eher noch beschleunigen.
Das ist bekannt. Man traut es sich jedoch nicht, in größerem Rahmen (sprich: fürs Volk) auf den Tisch zu bringen. Zuviel steht auf dem Spiel, zum Beispiel unser bisheriges Menschen- und Gesellschaftsbild. Nach "schaffe, schaffe, Häusle baue" haben sich nicht nur in Süddeutschland seit Generationen die Menschen orientiert und definiert - und selbst sei es unbewußt geschehen. Warum waren die "neuen Montagsdemonstranten" so aggressiv? Den wenigsten von ihnen dürfte es so schlecht gegangen sein, daß sie sich überlegen müssen, wovon sie sich morgen ernähren sollen. Es ist wohl vielmehr das aktuelle Menschenbild: "hast du keine Arbeit, bist du nichts wert." In Zukunft wird das noch bedeutend mehr Menschen treffen als heute. Statt der einen sendet der Automat, statt der anderen fährt ein Rechner die U-Bahn, statt wieder anderer operiert der für genau diesen einen Job gemietete Herzchirurg aus dem Billiglohnland via Onlineverbindung und Roboter. Sind die anderen dann alle "raus"? Was sollen sie den ganzen Tag machen, was sind sie "wert"? Was bedeutet "Arbeit", was ist "gesellschaftlich von Nutzen"? Das sind die Fragen, die diskutiert werden müssen, sie sind dringlicher denn je zu beantworten. Da die Antwort allerdings gravierende Folgen für uns alle haben wird, scheut man sie. Wir haben ein psychosoziales Problem als Hauptgrund unseres Unwohlseins und weigern uns bislang, dies anzuerkennen. Solange diese Weigerung mehrheitlich (meist auch unbewußt) erfolgt, geht es so weiter wie bisher: vermeintlich Schuldige an der aktuellen Situation suchen und über sie herfallen, Anfeindungen, Angriffe, vergiftetes Klima, panisches Klammern an Rettungsankern, die keine sind.
Der einzige Antrieb des Menschen, etwas zu machen, ist letztlich Leidensdruck. Das habe ich an mir selbst oft genug erlebt und werde es wohl auch immer wieder erleben. Offenbar ist der Leidensdruck in diesem Falle noch nicht groß genug.
Zu deutsch: schreibt Merkel oder was auch immer auf das Geschenkpapier - im Paket kann bis auf Nuancen nur das gleiche drin sein. Für die Medien kann diese Situation auch eine große Chance sein, wieder einmal gesellschaftlich aktiv zu werden: als Plattform für die Vermittler zwischen Realität und Wunschdenken. Aber ist es denn schon soweit?