AW: Der Amoklauf und die Medien
Die Aussage, das in Makeitsos Gymnasialklasse niemand Amok gelaufen ist, hat genau den gleichen Aussagewert wie die, daß aus der Abschlußklasse der Albertville-Realschule 2008 in Winnenden ein Schüler Amok gelaufen ist: nämlich gar keinen. Hier handelt es sich um zwei konträr aufgestellte Einzelfälle.
Als drittes Beispiel könnte ich meine eigene Oberprima in's Feld führen: dort ist auch niemand Amok gelaufen. Aber mindestens einer hat schwere Probleme in seinem Leben und auch da haben die Eltern, Freunde und wer nicht sonst noch alles "alles versucht". Der springende Punkt ist, daß die angeprangerten Mißststände im Bildungswesen (und ja, ich sehe sie durchaus als Mißstände) durchaus die Entwicklung solcher Fälle begünstigen können. Aber sie sind genausowenig allein dafür verantwortlich wie die Lehrer, die Eltern, die hänselnden Mitschüler, die Computerspiele, die Bundeswehr, die Politiker, die Medien noch das System, oder was man sonst in solchen Fällen gerne als den Buhmann hinstellt, an sich.
Auch wenn es toll wäre, eine einzige Ursache für solche Gewaltausbrüche dingfest machen zu können und fürderhin einfach zu verbieten, so ist das genauso illusorisch, wie der Satz "alle Menschen sind gleich". Denn genau diese Fehlannahme führt in der Folge zu vielen Mißverständnissen. Denn alle Menschen sind eben nicht gleich. Ich bin nicht Makeitso, ich bin nicht freiwild, bin nicht Radiokult - ich bin ich. Und Du bist Du. Der Satz bekommt erst dann seine richtige Bedeutung wenn man ihn umformuliert: "Alle Menschen haben grundsätzlich die gleichen Rechte".
Vielleicht wird es etwas verständlicher, wenn ich den Rousseau'schen Freiheitsbegriff hier einführe: "Der Gehorsam gegenüber dem Gesetz, das man sich vorgeschrieben hat, ist Freiheit". Dieser kleine Satz enthält viele Wahrheiten, die erst bei näherer Betrachtung offenbar werden. Wer Freiheit so definiert, tun und lassen zu können, was ihm gefällt, landet in der Anarchie. Ich habe in meinem vorherigen Beitrag schon auf das "Recht des Stärkeren" verwiesen, welches die ultima ratio ebendieser Anarchie ist. Folglich muß in einer Gesellschaft, die friedlich zusammenleben will, diese Freiheit eingeschränkt werden. Am einfachsten ginge das, wenn sich jeder bewußt wäre, daß die eigene Freiheit genau dort aufhört, wo die eines anderen beginnt.
Daß dies sehr idealistisch gesehen ist und daher vermutlich unpraktikabel (siehe meine früheren Ausführungen zum Thema "Vernunftbegabung"), ist mir sehr wohl bewußt. Nur welchen Ausweg gibt es? Ich sehe für mich nur den, den schon Rousseau vorgezeichnet hat: die Volkssouveränität. Die Bevölkerung ist niemand anderem als sich selbst Rechenschaft schuldig und erläßt die Gesetze, die ihr Zusammenleben regeln. Diesen gehorcht sie aus freien Stücken und respektiert, daß die eigene Freiheit nicht absolut zu sehen ist, sondern innerhalb der selbst gewählten Grenzen. Dies dürfte meiner Idealvorstellung ziemlich am nächsten kommen.
Technisch gesehen haben wir jetzt schon so ein System. Das Volk bestimmt seine Politiker und diese erlassen die Gesetze im Sinne des Volkes. Erlassen Sie Gesetze, die dem Volkeswillen zuwider gehen, könnte dieses als Souverän die verantwortlichen Politiker jederzeit ihres Amtes entheben und durch geeignetere Vertreter ersetzen - und exakt hier liegt der Hase im Pfeffer: die meisten Menschen sind sich ihrer "Macht" - und daraus direkt folgernd ihrer Rechte *und* ihrer Pflichten! - überhaupt nicht bewußt! Der Teil der Bevölkerung, die sich aktiv am Geschick des Staates beteiligen ist verschwindend gering und zu allem Überfluß auch noch von *Menschen* besetzt, also Wesen, die durchaus Versuchungen, Egoismus und anderen Übeln zugänglich sind. "Quis custodiet ipsos custodes" (Wer bewacht die Wächter) fragten schon die Lateiner und wenn wir als Bevölkerung unsere Politiker nicht überwachen und ihnen unseren Auftrag so formulieren, daß sie ihn auch verstehen, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn sich die Dinge sich nicht wirklich in unserem Sinne entwickeln.
Daher sehe ich systemkritische Beiträge wie den verlinkten durchaus als wichtig an, und sei es nur zum Anregen einer Diskussion. Wir alle müssen uns für uns selbst klar werden, was wir wollen. Wir müssen uns klar werden, daß wir zum friedlichen Zusammenleben Grenzen brauchen, an denen wir unser tägliches Handeln orientieren können. Wir müssen uns mit unseren Nächsten darüber austauschen, wie man diese Grenzen stecken kann, um möglichst vielen (aus mathematischen Gründen verwende ich an dieser Stelle absichtlich nicht das Wort "allen", welches eine mathematische Besonderheit des Wortes "vielen" darstellt) Menschen ein möglichst freies, friedvolles Leben zu ermöglichen. Danach müssen wir dann die Vertreter aus unserer Mitte bestimmen, die diesen Willen in Gesetze fassen und ganz zuletzt - wieder jeder für sich allein - den Entschluß fassen, diesen Gesetzen Gehorsam zu leisten. Dann haben wir die Freiheit, die Rousseau schon beschrieben hat, erlangt.
Bis wir an diese Stelle gelangen (und ob wir das überhaupt jemals schaffen, steht in den Sternen, immerhin dürfen wir unsere Schwächen nicht vergessen), operieren wir mit all unseren Diskussionen, Forderungen und Kritiken an den Symptomen herum und verstellen uns dadurch den Blick auf das große Ganze. Es spielt keine Rolle, ob aus einer Klasse von 23 oder 36 Schülern 0, einer oder viele Amokläufer hervorgehen. Es spielt keine Rolle, ob es eine Bundeswehr gibt und internationale Konflikte mit Waffengewalt gelöst werden. Es spielt keine Rolle, ob einzelne Menschen nicht die geistige Abstraktionsfähigkeit besitzen, um ein Computerspiel von der Realität unterscheiden zu können. Es spielt eine Rolle, daß jeder Mensch anders ist und nicht gleich. Es spielt eine Rolle, diese vielen unterschiedlichen Menschen dennoch in *einer* Gemeinschaft zusammenleben. Und deshalb ist die Erkennung seiner selbst als Individuum und die Erkennung seines Nächsten als gleichberechtigtes Individuum die unabdingbare Voraussetzung für ein friedvolles Zusammenleben. Du bist Du. Ich bin ich. Ich erkenne Dich als gleichberechtigtes Individuum an, das seinen kleinen Teil in dieser Welt hat und ich hoffe, Du erkennst mich als gleichberechtigtes Individuum an, dem mein kleiner Teil an dieser Welt zusteht. Zum friedvollen Zusammenleben müssen wir uns gegenseitig respektieren und gemeinsam die Regeln erstellen und achten, nach denen wir zusammenleben wollen.
Das wäre der Idealzustand, den zu erreichen ich mir von der Menschheit wünschen würde. Er versetzte uns in die einmalige Lage, viele der Probleme, die uns heute plagen, ein für allemal im Dunkel der Geschichte versinken und allenfalls noch als Mahnmal uns eine Lehre sein zu lassen. Doch sind wir alle nur Menschen...
LG
McCavity