AW: Die deutsche Radiolandschaft der kommenden Jahre: Wie sieht die Zukunft aus?
Vermutlich wird es die GEZ noch sehr lange geben, da sich die ÖR-Anstalten sonst nicht finanzieren lassen. Nachdem sich in der Anfangszeit des "Privatfunks" die Privaten als die Mutigeren erwiesen haben, zeigt sich immer mehr, daß die ÖRs mehr finanziellen Spielraum haben, um ungewöhnliche Konzepte zu wagen, als die gewinnorientierten Privaten. Inwieweit solche Konzepte tatsächlich entwickelt werden oder sogar auf Sendung gehen, steht auf einem anderen Blatt. Wenn die ÖRs aber wieder Klientel zurückgewinnen wollen bzw. auch Leute ansprechen wollen, die nicht mit den klassischen Medien sondern mit dem Internet aufgewachsen sind, müssen sie sich auch trauen, solche experimentellen Konzepte auf Sendung auszuprobieren - auch mit dem Risiko, daß von diesen Experimenten die gewinnorientierten Privaten finanziell mehr profitieren, die sich kein "kreatives Atelier" leisten wollen.
Wenn die ÖRs diese Klientel nicht gezielt anlocken wollen (warum auch immer), dürften ihre Zuschauer/hörerzahlen weiter zurückgehen. Den Privaten mag es da ebenso ergehen, aber die bekommen keine GEZ und dürfen sich (noch) mit dem "Neun Live"-Konzept der inhaltsleeren Anrufshows finanzieren. Wenn einem Sender nichts an Inhalten gelegen ist, sondern nur an der Kasse, dann bringt er so etwas.
Für die Verbraucherschützer wäre es nur wünschenswert, wenn das "Neun Live"-Konzept innerhalb der nächsten 10 Jahre ausgespielt hätte, aber wie ließe sich das realisieren? Selbst wenn den Sendern vorgeschrieben wäre, einen Mindestinhalt pro Tag zu senden, würde so ein Sender einmal am Tag vielleicht eine viertelstündige Nachrichtensendung, zusammengeschnitten aus Reuters und dpa-Beiträgen bringen, und den Rest der Zeit wieder die übliche "Abzocke". So gesehen könnte es sein, daß "Neun Live Radio" nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die Frequenz dafür frei wird.
Die Musikindustrie dürfte inzwischen gemerkt haben, daß ein Formatradio mit einer Rotation von nur rund 100 Titeln und ihr Ziel, Musikaufnahmen zu verkaufen, nicht zusammenpassen. Zumal sich die immergleichen Titel durch ihre Ausstrahlung nicht besser verkaufen, weil sie ohnehin im Radio kommen, und die große Masse der anderen Titel nicht besser verkaufen, weil sie nicht ausgestrahlt werden. Es wäre also durchaus eine Möglichkeit, daß die Musikindustrie mit eigenen Radiosender(n) durchstartet, um ihre Produkte selbst zu promoten - statt wie bisher durch Bemusterungen der Sender diese Promotion zu outsourcen. Was die Musikindustrie in den nächsten 10 Jahren tut, hängt aber stark davon ab, wie sie die nächsten 5 Jahre übersteht.
Ich halte es für möglich, daß im Zuge der Umstellung der terrestrischen Sender auf digitale Übertragung die Anzahl von kleinen Sendern zunimmt, die im Extremfall so aussehen könnte, daß das Sendestudio nur noch ein einziger PC ist, an dem der Moderator für die Staudurchsage sitzt, und die Songs und die Moderationsclips und die Nachrichtenclips vom Drittanbieter und die Werbung schaltet. Im Nebenraum sitzt vielleicht noch ein Buchhalter in Personalunion als Kundenbetreuer für die Werbekunden.
Ein Mitarbeiter der Beraterfirma kommt einmal pro Woche "zur Beratung" vorbei mit den neuen Claims und zum Senderprofil passender Musikrotation im Gepäck. Die coolen Moderatoren wären dann nur freie Mitarbeiter der Beraterfirma, die ihre Texte im Studio der Beraterfirma aufnehmen, passend zum Senderprofil, das die Beraterfirma ausgearbeitet hat. So könnte es auch vorkommen, daß die gleichen Stimmen als verschiedene Moderatoren-Charakter für mehrere verschiedene Sender dieser Art mit unterschiedlichem Senderprofil gleichzeitig auf Sendung zu hören sind.
Es ist gut denkbar, daß sich die Musikindustrie den Zugang zu dieser Art Sendern mit Minimalaufwand sichert, indem sie sich rechtzeitig an den Beraterfirmen beteiligt, die effektiv das Programm gestalten.
Wenn ich mich richtig erinnere, arbeitet ClearChannel in den USA so ähnlich.
Aber soweit, daß die "Ansagen" der Moderatoren aus Textbausteinen bestehen wie die Ansagen in der U-Bahn, wird es nicht gehen, denn das mögen die Hörer nicht - höchstens für kurze Zeit als coolen Gimmick.
Als Kontrast dazu dürften im digitalen Fernseh-Bereich noch weitere ÖR-Spartenprogramme dazukommen, z.B. ein Lifestyle-Sender (mit Mode-, Koch-, Garten-, Einrichtungsshows und Wiederholungen alter "Kunst und Krempel"-Sendungen) oder ein Teen-Sender (für den die neue Kuttner und der neue Hape Kerkeling aber noch gefunden werden müßten - vorausgesetzt die ÖRs trauen sich, das auszuprobieren).
Damit für mich als Hörer das Internetradio richtig attraktiv werden würde, bräuchte ich richtige Lautsprecher für den Computer. Die wenigsten Computer haben diese. Und selbst wenn, wäre das Internetradio hauptsächlich auf ortsfeste Empfänger angewiesen. Der Boom in Sachen UMTS ist bisher ausgeblieben, so wie ich das mitbekommen habe. Und das wahrscheinlich aus Kostengründen für den Endverbraucher. Sofern das so bleibt, ist in absehbarer Zeit nicht mit einer großen Zahl von UMTS-Autoradios zu rechnen, die einen Zugriff auf Internetradio ermöglichen würden. Falls aber im Zuge eines "Konjunkturpaketes" sämtliche Autobahnen mit WLAN ausgestattet werden sollten, damit der Individualverkehr als Alternative zur Deutschen Bahn mit deren Internetangebot in ihren Fernreisezügen mithalten kann, könnte mit einer abrupten, starken Zunahme von Hörern beim Internetradio gerechnet werden.
Aber Spaß beiseite: solange die Kosten pro Empfängerplatz (der passende Fachausdruck ist mir gerade entfallen) eines Internetradiosenders weiterhin steigen, seien es die für die Sendelizenz oder die für die GEMA, dürfte die Anzahl der kleinen, unabhängigen Internetradios (Amateure), weiter zurückgehen.
Viel interessanter finde ich die Frage, wie sich die Hörgewohnheiten der Leute entwickeln werden. Aber die ist noch schwerer zu beantworten.
Aber ein privater Wunschmusiksender, bei dem man für teurers 0190-Geld anrufen kann, um sich einen Song zu wünschen, der dann nur gespielt wird, wenn er dem Senderprofil entspricht, wird ganz sicher von einem nicht zu vernachlässigenden Prozentsatz an Leuten als Verarsche empfunden werden, speziell wenn man nach dem Anruf gehäuft personalisierte Werbe-SMS bekommt.
So gesehen ist es ziemlich wahrscheinlich, daß sich die aus den neuen Medien bekannten, sogenannten Web-Annoyances, innerhalb der nächsten 10 Jahre auch in den klassischen Medien zeigen werden. Gut möglich, daß findige Programmierer einen Werbeblocker fürs terrestrische Digitalradio mit regelmäßigen Updates zum Runterladen als Freeware ins Netz stellen werden. Vielleicht sollten die ÖRs darüber nachdenken, die Entwicklung dieses Tools selbst in die Hand zu nehmen, um sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen