AW: DLF mit Realitätsverlust?
Versuche ich mal die Diskussion zu entwirren:
Was ist gesellschaftlich Relevanz? Darunter kann man (I.) Ereignisse und Meldungen verstehen, die unmittelbar Auswirkungen auf das Leben vieler Menschen haben, oder die gesamtgesellschaftliche Entwicklungen darlegen. Hartz-4-Diskussionen gehören dazu, ebenso Bundestagsdebatten zur Rentenpolitik, Arbeitmarktstatistiken über die Beschäftigungssituation im Bau; und ja, auch der 492. Wolfgang-Bosbach-Kommentar zur Sicherheitspolitik, inwiefern demokratische Freiheitrechte im Zeitalter des globalen Terrorismus noch zeitgemäß sind, ist selbst für solche Menschen relevant, die sich nicht dreimal pro Woche auf internationalen Flughäfen aufhalten.
Oder man versteht gesellschaftliche Relevanz als das (II.), worüber, viele Menschen in einem bestimmten Zeitraum reden: Das kann internes Gezänk in einem oberbayerischen überbezahlten Fußballverein sein, sein, die Wandertour eines Braunbären durch die deutsch-österreichischen Alpen, oder die mögliche Affäre zwischen zwei amerikanischen Popsängerinnen oder Tratsch aus einem periphär-europäischen Königshaus. Eine in der Sache liegende Relevanz für Personen, die nicht unmittelbar betroffen sind, lässt sich kaum begründen, aber trotzdem haben viele Menschen das Bedürfnis, die Vorgänge zu kommentieren. Eine soziologisch sicherlich interessante Sache.
Nun sind I. und II. aber keineswegs völlig von einander getrennte Aspekte: Die Debatte darüber, wieviel z.B. ein bestimmter Spitzensportler oder Wirtschaftskapitän verdient (Relevanzbereich II) kann auch als Teil der Diskussion darüber aufgefasst werden, welche Entlohnungen für verschiedene Tätigkeiten eine Gesellschaft als normal empfinden möchte (Relevanzbereich I). Der Verkehrsunfall, bei dem ein 18jähriger Jungautomobilist sich und sechs seiner Freunde in einem überbesetzten Fiesta in den Tod reißt (Relevanzbereich II) kann Aufhänger dafür sein, über Verantwortungsbewusstsein am Steuer oder ein Alkoholverbot für Fahranfänger nachzudenken (Relevanzbereich I). Und wenn ein Schüler seinen Lehrer aus Frust über schlechte Noten in den Tod reißt (Relevanzbereich II), kann man z.B. darüber diskutieren, ob mehr psychologische Betreuung an Schulen notwendig ist, oder mit welchen Konsequenzen es in Deutschland verbunden ist, Lehrer zu sein (Relevanzbereich I).
Für Medien und die durch die konstitutierte Öffentlichkeit mag es attraktiv erscheinen, wirklich relevante Themen aus dem Bereich I nicht direkt, sondern als Pars pro Toto anhand von Fällen aus dem Bereich II darzustellen. Denn selbst Mord und Totschlag wird dröge, wenn es als bloße Statistik daherkommt; das Gesicht des Täters dagegen, der Schrecken der Hinterbliebenen, das Blut auf dem Boden, das Blaulicht, die verstörten Passanten - da kommen Emotionen rüber, "das wollen die Leute wirklich sehen".
Das Problem ist aber: Wer gerantiert die Repräsentativität der singulären Ereignisse für die gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeit? Werden soziätale Entwicklungen in der (Medien-)Öffentlichkeit nicht mehr als solche, sondern anhand von emotionalisierten Einzelfällen behandelt, ist der Manipulation Tür und Tor geöffnet.
Das kann vergleichsweise harmlos damit anfangen, dass z.B. eine sozialpolitische Berichterstattung, die aus Homestorys über einen Neumillionär und einen assoziale Arbeitslosen, der in seinem Müll haust und fett den ganzen Tag TV schaut, besteht, bei Uninformierten (hier z.B. der Mittelschicht) den Eindruck erweckt und die Stimmung erzeuget, jeder sei hierzulande seines Glückes Schmied und die ganzen Arbeitslosen seien doch selbst schuld und deswegen müssten die Hartz-4-Sätze bloß gekürzt werden, um das Problem der Unterschicht in den Griff zu bekommen. Oder dass das größte Problem, das wir heute haben, die unverdiente rote Karte war, die der Schiedrichter dem Fußballspieler im Spiel gestern gezeigt hat. "In den Nachrichten war das Thema schließlich auf der '1'!" Die gegenteilige Empirie in einen Beitrag unterzubringen, ist dagegen längst nicht so sexy.
Es kann aber soweit gehen, dass man durch selektive Auswahl der Einzelfälle, die man behandelt, um das große gesellschaftliche Ganze darzustellen, zu einer derart verzerrten Darstellung kommt, dass die Verzerrung der Berichterstattung selbst wieder zum gesellschaftlichen Problem wird. Es gibt z.B. in Deutschland Webseiten, die penibel jedes Vergehen auflisten, das in Deutschland von einem muslimischen Einwanderer an der "autochtronen Stammbevölkerung" verübt wird. Wenn man konsequent solche Medien nutzt, kann man fast nicht anders, als zum Ergebnis kommen, dass der Muslim als solcher das größte Problem hierzulande darstelle. (Analog dazu sind z.B. unter US-Rassisten Webseiten beliebt, die konsequent jeder Verbrechen von Schwarzen an Weißen auflisten - Beispiele für solch verzerrte Berichterstattung dürfte es wohl auch für zahlreiche andere ethnische Mehrheiten-Minderheiten-Konstellationen geben). Die Aggressivität, die z.B. in den USA eine erheblicher Teil der Bevölkerung (eine Minderheit zwar, aber keine geringe) der Regierung von Barack Obama entgegenbringt, ist ohne die erzkonservativen Talkradios, welche ihren Hörern ständig einbläuen, dass Barack Obama Teil einer antiamerikansichen antichristlichen Weltverschwörung sei, kaum vollständig zu erfassen.
Medien, gerade öffentlich-rechtliche Medien, sollten aber genau das vermeiden. Sie sollten aufklärerisch sein, den Emotionen Fakten entgegenstellen, statt sie zu schüren; Wissen vermitteln statt Einstellungen zu schüren; Ereignisse einordnen statt die Realität zu verzerren. Eine Berichterstattung, die diesen Anspruch hat, muss sich jedesmal neu fragen, wieviel der Relevanz einer Meldung Emotion ist (Relevanzbereich II) und wieviel gesellschaftliche Realität (Relevanzbereich I). Und diese Aufgabe hat der DLF hier gut erfüllt. Und deswegen bin ich dankbar dafür, dass es ihn so gibt.