Mittlerweile ist es auch für die populären öffentlich-rechtlichen Programme eine Selbstverständlichkeit, nur bekannte Titel und Interpreten zu spielen. Es gibt keine Überraschungen mehr, denn es darf nichts laufen, was der Hörer nicht kennt - wir sprachen schon oft darüber.
Das Grundübel im deutschen Radio ist die geringe Anzahl an Neuerscheinungen, die sich wiederum großteils auf den höchst polarisierenden Top-40-Bereich beschränken. Durch Austrocknung der Deutsch-Schiene ist auch hier nicht mehr viel zu erwarten, im Rock-Bereich gibt es kaum noch Sender, die neue Musik promoten und auch in anderen Bereichen sieht es zappenduster aus. Außerdem rühren die meisten Sender alles verfügbare Material zu einem zähen, schwer verdaulichen Brei zusammen, wer soll sich da noch angesprochen fühlen?
Dann gibt es noch gute retrospektive Sender wie das rockorientierte SWR1BW oder die Classic-Hits-formatierten Wellen SWR1RP und hr1, aber auch hier gibt es kaum Neuerscheinungen abseits der aufs junge Einheitsradio ausgerichteten Researchmaschinerie, die kaum noch zielgruppentaugliche Musik liefert. Schon allein deswegen müssten die Musikredaktionen wieder aufgewertet werden!
Die Musiklandschaft hat sich in den letzten 20 Jahren erheblich verändert und ausdifferenziert, die Geschmäcker divergieren immer stärker und die Zielgruppen müssten längst neu definiert werden; doch das deutsche Radio wehrt sich verbissen gegen jede sinnvolle Anpassung, die letztlich auf eine Auffächerung und Erweiterung des musikalischen Angebots hinauslaufen muss.
Wer nicht mit der Zeit geht und veränderten Hörgewohnheiten Rechnung trägt, hat aber schlechte Karten im Konkurrenzkampf mit den neuen Medien. Noch dazu ändern sich die Geschmäcker: Wer heute noch auf Chris Brown steht findet ihn in vielleicht schon in zehn Jahren nur noch grottig. Für alle, die den Kinderschuhen entwachsen sind, gibt es aber bald nur noch Oldies oder Classic Hits aus längst vergangenen Zeiten. Dabei gäbe es so viel tolle Musik aus allen erdenklichen Genres, nur findet sie nie den Weg ins deutsche Radio.
Gehöre ich zu einer Hörergruppe, die so langsam ausstirbt? Wächst eine Hörergruppe heran, für die eine oberflächliche Musikauswahl normal und vielleicht sogar etwas Tolles ist? Oder höre ich Radio einfach nur mit anderen Ohren?
I wo. Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet ist das deutsche Musikradio ohnehin nicht sonderlich erfolgreich, aber die wenigen Big Players wollen aufgrund zielgruppenspezifischer Überlegungen trotz rezessiver Tendenzen und fehlender Visionen nichts an der gegenwärtigen Lage ändern. Branchenfremden Großinvestoren mit erheblichem finanziellen Spielraum wird schon seit Jahrzehnten der Marktzutritt verwehrt, überdies ist das Werbegeschäft ganz auf die Interessen der Printsparte zugeschnitten. So ist nun mal die Lage, ob sie einem gefällt oder nicht.