AW: RPR1.: Alle Zähne ziehen lassen für 100.000 Euro
Hallo Count Down,
ein Verstoß gegen die Grundrechte ist nie ein Straftatbestand und das hat einen einfachen Grund: Unser Rechtsystem ist nach dem so genannten Subsidiaritätsprinzip aufgebaut. Das heisst, dass möglichst viele Gegenstände juristischer Entscheidungen in der Gerichtsbarkeit möglichst weit unten angesiedelt sein müssen. Der Staat kommt seiner Schutzpflicht nach, indem er eben die Rechtsordnung schafft, die unter anderem Diebstahl (zurückzuführen auf Grundrecht auf Eigentum) oder Körperverletzung (Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit) oder Mord (Grundrecht auf Leben) unter Strafe stellt - und damit überhaupt erst Straftatbestände schafft. Unmittelbar angewandt verbürgen die Grundrechte trotzdem nichts anderes als subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt, die ihre Macht bändigen sollen.
Zur Menschenwürde: Der juristische Streit darüber, was genau unter Menschenwürde zu verstehen sei, ist so alt wie das Grundgesetz selbst. Es gibt zwei Dogmatiken: Da wäre erstens die Mitgifttheorie, welche die Menschenwürde als Naturrecht definiert, das der Menschlichkeit qua Definition mitgegeben sei. Hier geht es eher um die Gattung Mensch als Träger dieser unverhandelbaren Menschenwürde. Der Staat hat sich daraus schon Rechte abzuleiten versucht, den Mensch quasi vor sich selbst zu schützen. Doch das ist ziemlich problematisch, da ja die Grundrechte eigentlich genau solche Eingriffe des Staates verhindern sollen.
Zum zweiten gibt es die Leistungstheorie, welche in eine viel individuellere Richtung argumentiert. Demnach kann der Mensch durch sein Handeln das Maß seiner eigenen Menschenwürde beeinflussen (natürlich ohne sie vollends aufzuheben). Was für den einen entwürdigend ist, muss für den anderen nicht auch so gelten. (Es gibt Frauen, die ekelt jeder Strip als Angriff auf die eigene Persönlichkeit an, andere verdienen damit ihr Geld.) Diese Interpretation schließt ein Selbstbestimmungsrecht ausdrücklich ein.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich nicht klar und ausschließlich für die eine oder andere Theorie entschieden, sondern setzt auf Einzelfallentscheidungen. Das Selbstbestimmungsrecht tritt ab und an zurück, beispielsweise wenn ein Verhalten, und sei es von der Einzelperson noch so freiwillig und gern erbracht, geeignet ist, ein ganzes Geschlecht, eine ganze Berufsgruppe o.ä. zu entwürdigen. (Bei knallharten, unpersönlichen Peep-Shows mit Frauen auf einem drehbaren Teller und Kabinen mit Sichtfenstern drum herum etwa, die laut BVerwG im Gegensatz zum normalen Striptease gegen die Menschenwürde verstoßen, u.a. weil sie geeignet sind, das weibliche Geschlecht käuflich zu verdinglichen.)
Eingriffe in die Menschenwürde (sei es drum, was genau sie ist), werden über die so genannte Objektformel definiert. Auch davon gibt es eine weite und eine enge Auslegung. Die weite Auslegung besagt, dass es für einen Eingriff reicht, den Menschen zu irgendeiner Art von Objekt zu machen. Das ist sehr, sehr umstritten. Die enge (und geläufige) Auslegung besagt, dass noch ein willentliches Verächtlichmachen, Brandmarken, Herabsetzen hinzu kommen muss.
In "unserem" Fall liegt ja überhaupt erst einmal nur die freiwillige Aussage der Dame vor, sie sei bereit, sich für das Geld alle Zähne ziehen zu lassen. Vielleicht ist sie damit in der PR-fördernden Konsequenz dieser Aussage schon zum Objekt des Gewinnspiels gemacht. Aber geht das Risiko nicht jeder ein, der an einem Gewinnspiel teilnimmt, absahnt und dann zu Homestorys antanzen darf? RPR stellt sich ja nicht hin und sagt: Äh, guckt Euch mal die blöde, geldgeile Tussi an. Solange das nicht passiert, glaube ich nicht, dass irgendein Teil der Staatsgewalt mit Verboten gegen dieses Gewinnspiel durchkommen würde. Eher könnte sich RPR dann auf das Grundrecht auf Rundfunkfreiheit berufen.
Anders wäre das beispielsweise, wenn die Dame im Verlaufe des Gewinnspiels feststellen würde, dass sie Spott und Hohn unterschätzt hat, aussteigen möchte, aber per Vertrag bis zum Ende der Major Promotion an RPR gebunden wäre (Ausdrücklich: Ich weiß nicht, ob das so ist!). Dann müsste zivilrechtlich geklärt werden, ob der Vertrag sittenwidrig wäre. Und das könnte ich mir gut vorstellen, unter anderem, weil unter der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte die Menschenwürde eine Rolle spielen könnte.
Na, und was wäre, käme die Dame tatsächlich in Verlegenheit, sich alle Zähne ziehen zu lassen? Darüber müssen wir nicht reden. Das wird nämlich nicht passieren. Bisher hat auch niemand dagegen wetten wollen.
Viele Grüße
Die Hexe
PS: Der Fall ist übrigens schon durchexerziert. Ein nicht näher benannter sächsischer Sender hatte das im Rahmen der Aufregung um die ersten Big-Brother-Staffel gespielt und gefragt: "Was würden Sie tun für 250 000 DM?" Es fand sich jemand, der wollte einer lebenden Maus den Kopf abbeißen, ein weiterer, der sich den kleinen Finger abhacken wollte und - soweit ich mich recht erinnere - ein Dritter, welcher nackt durch eine Einkaufszone laufen wollte. Die Aufregung war groß, namhafte Vertreter der Wissenschaft und Politik entrüsteten sich, der PD muss angesichts DIESER kostenlosen PR Orgasmen gehabt haben. Natürlich wurde das Spiel nicht unterbunden, dafür musste der Sender ein halbes Jahr später eine Podiumsdiskussion ausrichten. Na ja.
PSS: Ach so: Gewonnen hatte damals übrigens der, welcher eine gewisse Summe vom Dresdner Rathausturm schmeissen wollte. Durfte er nicht, Gefahr zu groß. Also ging es nach Plauen, wo der Gewinner das Geld ebenfalls vom Rathaus schmeissen wollte. Durfte er wieder nicht. Am Ende hat er es den Leuten in die Fenster geworfen, die dicht umlagert waren. Das ganze Trara um die Umsetzung gab eine zweite, nicht minder wertvolle PR. Wenn wir die Moral mal außen vorlassen, war das strategisch betrachtet eine Bombenaktion. Nötigt mir immer noch ein bisschen Respekt ab.