AW: Studiotechnik in den 70ern
Mir brennt zur Studiotechnik der 70er Jahre noch etwas auf den Nägeln, was vielleicht bei der Initialzündung dieses Threads gar nicht erwogen worden war: Auch die papierenen Wissenschaften nämlich lieferten damals einen nicht unwesentlichen Beitrag zur technischen Vorbereitung des Digitalzeitalters.
Fassten die 1960er Jahre mit großer Akribie die Erkenntnisse des ersten fünfzig Jahre des Jahrhunderts (im Grunde seit Walter Webers Einführung in die angewandte Akustik, Leipzig 1936) zu einem auch aus heutiger Warte zutreffenden Bild zusammen (z. B. Feldtkeller-Zwicker, Das Ohr als Nachrichtenempfänger, Stuttgart 1966), so treten Ende der 1960er und vor allem in den 1970ern Jens Blauert, ab Mitte der 1970er auch Günther Theile auf den Plan und organisieren eigenes Material und solches ihrer Lehrer zu einer Theorie der Stereofonie. Diese bestand zwar in der Praxis längst, doch fehlte eine wissenschaftlich konsistente Grundlage des "Warum-denn-eigentlich-?" noch immer. Bis heute sind daher Blauerts Arbeiten
Untersuchungen zum Richtungshören, (Dissertation) Aachen 1969,
Räumliches Hören, Stuttgart 1974 (mit Nachschriften)
überaus nützlich zu lesen, --- und so wenig überholt wie die oben genannte Arbeit Braunmühls und Webers von 1935/36 (, die aus der Feder Walter Webers stammte).
Theile hat sich ja sehr bald den Grundfunktionen der tonmeisterlichen Aufnahmepraxis verschrieben, wohl wissend, dass er Physiker und kein Tonmeister war/ist. Dabei erklärte er nicht unwesentliche Sachverhalte der tonmeisterlichen Praxis erstmals durch seine Dissertation (vgl. Assoziationsmodell anstelle der Summenlokalisation) und seither unermüdlich bei Tonmeistertagungen diverse Probleme durch eine schier endlose Reihe in teilweise regelrecht spannenden Vorträgen und Publikationen.
Aus den international diskutierten Einsichten entstanden Mikrofontypen (Kardioid-Ebenen-Mikrofon, Kugelfläche), vorschläge zu Beschallung (vgl. die Delta-Stereofonie der DDR-Tontechnik!!) und Geräteentwicklung (verzögerte Stütztechnik), was nicht zuletzt die relativ rasche Reaktion auf die Qualitätsrügen gegenüber der digitalen Technik ermöglichte und schließlich auch die Mikrofonentwickler auf Trab hielt. Dies wirkte dann auf die Entwicklung der Softwaren für die Raumsimulatoren (bespielsweise durch David Griesinger) ein: Alles im Gefolge der Weichenstellungen der 1970er...
Zu Theile kann man im Netz allerlei lesen (manches aus der Frühzeit, vieles aus den letzten Jahren):
http://www.hauptmikrofon.de/theile.htm
Ich empfehle unter den Forenprämissen:
Seitliche Lokalisation TMT1996.pdf
Multichannel natural music recording based on psychoacoustic principles, Update October 2001
Eine der frühen Arbeiten ("Weshalb ist der Kammfilter-Effekt bei Summenlokalisation nicht hörbar?", TMT 1978) fehlt leider, wäre aber über den entsprechenden Tagungsberichtsband 1978 oder die VDT-CD zugänglich.
Ersatzweise kann man sich seiner Dissertation widmen, was aber Sitzfleisch voraussetzt.
Nicht jeder Tonmeister war mit Theiles oder auch Blauerts Vorschlägen glücklich, weil sie eben einem wissenschaftlichen Blick entstammten; dennoch wirken die Ideen in der Praxis bis heute fort, auch und gerade im Surroundbereich, der die Binauralität neuerlich über eine zentrale tonmeisterliche Frage in die Diskussion holte:
"Welche Phänomene der Binauralität nützt man unter welchen Bedingungen für die Lautsprecherstereofonie, welche nicht."
Insofern sitzen die späten 1960er, vor allem aber die kunstkopfversessenen 1970er mit der Gegenwart wieder im selben Boot.
Die 1970er lernten auf jeden Fall eines: Mit dem Kompatiblilitätsgebot von Rundfunk und schwarzer Platte war kein stereofoner Blumenpott zu gewinnen, weshalb der Rundfunk mit zunehmender stereofoner Flächenversorgung davon auch ab etwa 1975 abzurücken begann. Bei der Platte brauchte man dieses "erste Gebot der Plattenfertigung" hingegen einstweilen noch, aber: Auch die Plattenleute versuchten, eine wenigstens im Rahmen der Möglichkeiten realisierbare Neuorientierung, was der im Hause EMI, Köln entstandene Tiefenschriftlimiter nach Rothe & Schmidt (Offenlegungsschrift DE 1772343 von 1971) auch gerätepraktisch belegt. Er sollte ja auch 'weniger monokompatibles' Material in die Rille holen, ohne dass die Abtaster hörbar aufschrien, für das Ohr aber ein Gewinn in der Suggestion räumlicher Tiefe entstand. (Theile erklärt das 'Warum'.)
Der digitale Speicher war noch kein Allgemeingut, die Voraussetzungen seitens der Peripherie wurden aber vorbereitet, denn die digitale Technik blubberte in den späteren 1970ern nun langsam an die Oberfläche; vergessen wir auch das nicht. Das Zeitalter der OpAmps war ja bereits 10 Jahre im Gange.
Nun ja....
Hans-Joachim