AW: Wird WDR 3 ein Kultur-Leichtgewicht?
Weia, ist diese Gesellschaft bzw. die Erwartungshaltung an ihre Bewohner wirklich so seltsam?
Den klassisch bildungsorientierten Hörern steht eine Zielgruppe gegenüber, die nicht nur auf die Hochkultur abonniert ist.
Gut erkannt: es gibt tatsächlich Menschen, die "Kultur" nicht zur Abgrenzung benutzen. Die sich vielleicht als ganz "normale" Menschen betrachten, sich aber einfach bloß nicht anprollen lassen wollen und weder Superhitmixe noch super-Gewinnchancen im Radio erwarten. Aber was hat "bildungsorientiert" mit "Hochkultur" zu tun? Hier lese ich schon wieder "entweder E-Klassikhörer oder Proll".
Schönen Dank auch, da bleibe ich lieber Proll, höre weiterhin Prollmusik von Arcade Fire oder Wir sind Helden und freue mich jedesmal diebisch, wenn ich irgendwo als Doktor aufgerufen werde, aufstehe und die völlig verstörten Blicke um mich herum genießen kann.
Und wo sortieren die Rundfunk-Menschenbild-Planer von heute so seltsame Gestalten wie meinen Chef ein? Der hört Klassik und singt in mehreren Chören (soweit ich weiß auch in einem Kirchenchor), geht dann aber auch zu 2raumwohnung und hört auf der Fahrt zum Managementmeeting bei passender Laune affig laut Metallica im Firmenwagen? Hat der ein Recht auf Berücksichtigung im Kulturfunk? Oder ist er wegen seiner Vergehen gegen die "Hochkultur" nur noch als Jump-Hörer zugelassen?
Pfuibäh, perverse, sozialethisch desorientierte Schweine!
Unter ihnen sind selbst leistungsorientierte Hörer
Oh Schreck, was machen wir jetzt nur mit denen? Die zerstören doch der reinrassigen Hochkultur-Elite das Hör- und Abgrenzungsvergnügen. Wie können wir das bereinigen? Wir verlieren doch sonst die, die uns als Abgrenzungs-Waffe verwenden...
die das Radio einschalten, um morgens eine Buchbesprechung zu hören, damit sie abends auf der Party mitreden können
Ach, dafür wird Radio also gemacht. Damit sich irgendwelche unwichtigen Pfeifen abends beim inhaltsfreien Smalltalk wichtig fühlen können? Radio-Weisheiten als Ausstopfwolle für Hohlkörper? Ist diese Welt wirklich so kaputt? Bloß gut, daß ich lieber in die Natur oder Schwimmen gehe als auf solcherart Ego-Schaulaufen.
Dieses Potential gilt es auszuschöpfen.
Bitte nicht! Schickt die leeren Gestalten lieber auf ein buddhistisches Meditationsseminar oder für ein halbes Jahr zur Entwicklungshilfe nach Afrika, statt das Radio zum Neurosenbefriediger umzubauen.
Das beschreibt zunächst einmal die Herausforderung, vor der wir stehen. Wie kann WDR 3 ein neues Publikum finden, ohne dass wir den Anspruch an die Qualität aufgeben?
Ich sehe eine Antwort, die hat aber nichts mit den oben zerpflückten Gedankenspielen zu tun. Sondern schlicht und einfach mit der Erkenntnis, daß sich in den vergangenen Jahrzehnten neben der "zeitlosen" E-Kultur eine lebendige, gerne mit den Jahren etwas variirende "junge Kultur" oder "Pop-Kultur" oder wie auch immer herausgebildet hat, deren Freunde längst nicht mehr pauschal in die "Rabauken-Ecke" geschoben werden können. Ich behaupte, daß die Beatles und The Who, aber auch Arcade Fire oder Get Well Soon längst musikalische Bestandteile einer frischen, lebendigen Kultur sind. Einer Kultur, deren Anhänger durchaus mehr können als mit der Bierflasche in der Ecke herumzustehen und zu pöbeln oder Gaststättenmobiliar zu zerklopfen. Vielleicht sind sie sogar etwas gebildet. Zu dieser Kultur gehört gewiß auch Theater, es ist vielleicht nur anderes Theater als das, in das E-Klassik-Hörer gehen würden. Zu dieser Kultur gehört definitiv Kino, aber gewiß nicht "Stirb langsam 3". Zu dieser Kultur gehören Lesungen, seien es die von Wiglaf Droste oder die, die man "Poetry Slams" nennt.
Wie soll diese Kultur, wie soll diese Bevölkerungsschicht in ein E-Kultur-Programm integriert werden, ohne dessen "Qualität" aus Sicht der militanten "Abgrenzungs-Hörer" zu zerstören? So wird und muß das scheitern!
Entweder man bekennt sich zu all dem Gedöns von "Bildungselite" als Gegenteil zum "Niedrigperformer" (letztens aufgeschnappt, bezeichnet Menschen, die weniger als 70 Wochenstunden in der Chefetage arbeiten und sollte man als Unwort des Jahres vorschlagen) und hält weiterhin daran fest, daß es außer dieser Kultur keine andere geben kann - dann muß man tatsächlich auf große Hörerpotentiale verzichten und in Kauf nehmen, daß einem die Hörer wegsterben. Es sind einfach zu wenige junge Menschen da, die E-Kultur als Abgrenzungsmittel nutzen wollen. Dazu muß man schon recht abgebrüht sein, denn das macht in dieser Generation sehr, sehr einsam. Programme, die stur weiter diese Schiene fahren, werden unter den jüngeren Hörern allenfalls Programm-Hopper haben, die gezielt zu bestimmten Sendungen reinschalten, da ihr Leben aus mehr besteht als aus der Zelebrierung der E-Kultur. Ich habe ihn nicht gefragt, aber der junge Tenor in meinem weiteren Umfeld, der nebenbei auch noch gerne alte Kirchenorgeln bespielt und in Physik promoviert, wird durchaus auch schon zu Popmusik gehüpft sein und hat neben seinen musikalischen Wegbegleitern auch ganz "normale" Freunde.
Oder man öffnet sich einer bunten kulturellen Mischung, nimmt frustrierte "Alt-Hörer" in Kauf und wird in wenigen Jahren erstaunt feststellen, daß man den E-Kultur-Anteil immer weiter reduzieren muß - um der gesellschaftlichen Realität zu entsprechen. Das ist aber nicht der vielbeschworene Untergang der Kulturgesellschaft (die kann ich sowieso nirgendwo erkennen, das liegt aber auf ganz anderen Ebenen), sondern Ausdruck einer lebendigen Kulturlandschaft.
Vielleicht könnte so ein "Mischprogramm" sogar bestimmten Schichten einen Zugang zur E-Klassik verschaffen. Das dürfte aber kaum funktionieren, wenn man vermittelt, daß man E-Klassik höre, um seine Andersartigkeit zu belegen. Nein, gesunde Menschen haben viel primitivere Gründe, etwas zu tun: es muß ihnen Freude bereiten. Vielleicht sind solche schlichten Zusammenhänge ja zu profan für die selbsternannte "Hochkultur-Elite".
D-Kultur versucht bereits das Spagat zwischen den traditionellen und den jüngeren Kulturwelten. Warum dann noch weitere Programme auf diesem Sektor?
Natürlich kann ich sagen: Ein Beitrag hat Qualität, wenn er eine Viertelstunde dauert. Aus meiner Sicht hat eine solche Argumentation wenig Sinn.
Womit Herr Schmitz auch aus meiner Sicht eindeutig Recht hat. Wenn es aber ein Thema erfordert, sich ihm mehr als 3:30 zu widmen, dann muß dafür aber auch repressalienfreier Raum vorhanden sein. Sonst kommt der böse Radiowaves und reißt das "Kultur"-Etikett runter.
. . . der Vorwurf der „Entwortung“ ist ein geradezu unerträglicher Kampfbegriff geworden. Der WDR hat verschiedene Programme im Angebot. Eines davon, WDR 5, besteht zu achtzig Prozent aus Wortbeiträgen.
Ist das wirklich so schwer zu begreifen? Sucht Herr Schmitz auch, wenn er abends mit Freunden oder Geschäftspartnern gut essen gehen will, nacheinander ein Dutzend Restaurants auf? Im ersten mampft man lustlos Kartoffeln "ohne alles". Im zweiten schlürft man dann die Soße und versucht, sich an die Kartoffeln zu erinnern, während man gleichzeitig das Fehlen von Gemüse diskutiert, welches sich im dritten Restaurant "ohne alles" auf dem Teller findet? Im vierten Restaurant gibt es dann Salz und Gewürze und falls jemand beim Salzlecken der Meinung ist, gerade jetzt wären die Kartoffeln von vorhin schön, bekommt er als Antwort, er wäre doch mündiger Bürger und könne jederzeit ins erste Restaurant zurückgehen.
Genau so mutet für mich die heutige Konzeption des Hörfunks an. Beispiel MDR: wortfreier Prollfunk auf der einen Frequenz, nonstop-Nachrichten auf der anderen. Ich hätte aber gerne intelligentes Radio mit Aussage und Meinung zusammen mit Musik (die auf Jump streckenweise sogar meinen Geschmack träfe, zumindest deutlich mehr als die der anderen Musikwellen im Lande)! Man hat das Wort meist abgeschoben in eine Alibi-Veranstaltung, um auf den anderen Wellen das zu machen, was heute jeder 14-jährige mit seinem MP3-Player kann: Mucke. Das ist so langweilig, daß es durchaus dem Radio zum Sargnagel werden könnte.
Ach so:
WDR 3 ist von der Prägung her ein Musikprogramm.
Ähh, hat Herr Schmitz nicht vorhin gesagt, WDR 3 sei
einer der wichtigen Kulturleuchttürme in unserem Land, bekannt für hochwertige Musikbeiträge und Qualitätsjournalismus.
Ja was denn nun? Mucke-Spieler oder Kulturwelle mit Qualitätsjournalismus? Falls wirklich ersteres: macht ein Downloadportal auf WDR3.de auf, wo die Hörer nach Eingabe ihrer GEZ-Nummer den besten Klassik-Mix des Tages als 192er MP3 für den eigenen Player ziehen können.
Ach so, Klassik Radio gibt es ja schon...
Man muss bloß sehen, dass Radio tagsüber weitgehend ein Begleitmedium geworden ist.
Wie soll es auch anders sein, außer bei Rentnern, Arbeitslosen, Schichtarbeitern und Studenten? Das war auch nie anders. Gerade die beschworene "Bildungselite" ist tagsüber in Managementmeetings, hat einen Notes-Kalender, der grün und blau aussieht, telefoniert selbst auf stundenlangen Autofahrten unentwegt in Firmendingen - oder hat das Glück, die Zeit eines abgesagten Termins nutzen zu können, um selbst einmal einige Minuten konzentriert zu arbeiten. Wie sollen die dabei auch noch gezielt und aktiv Radio hören?
Ich erinnere mich, daß auf DT64 vormittags Wiederholungen der wertvollen Spätsendungen liefen - zu DDR-Zeiten hat man dieses Angebot dann sogar explizit als "für Schichtarbeiter" gekennzeichnet. Und wäre ich Programmchef einer Welle mit Anspruch, ich würde tagsüber hochwertige Magazine fahren mit abwechslungsreicher Musik und durchaus interessanten Themen; die ausfühliche Beschäftigung mit einem wichtigen Thema und die Musik-Spezialsendungen liefen aber definitiv abends ab 20 Uhr. Sie wären sonst verschwendet - auch im Zeitalter des digitalen Festplattenrecorders. Und dazu wären sie mir zu schade.
Wir haben einen neuen Medien-Nutzungstypus vor uns, der mit Magazinradio groß wurde, nicht mit sogenanntem „Einschaltradio“.
Komisch, ich kenne die, die beides sind beziehungsweise waren. Tagsüber mit weniger Aufmerksamkeit Magazinhörer, ohne großen Verlust auch mal "nebenbei". Abends dann "Einschalt-Hörer". Wie, wenn nicht als "Einschalt-Hörer", kann man heute als auch nur ein kleinwenig anspruchsvoller Mensch noch Radio hören?
Schon jetzt ist es so, dass zwei Drittel der WDR- 3-Hörerinnen und -Hörer auch andere Sender einschalten.
Das ist doch schon eine erfreuliche Erkenntnis: die Hörer sind in der Lage, ihre Empfangsgeräte zu bedienen und auch ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen...