AW: Gute Nacht Top40 – Gratulation nach Leipzig
So kurz vor Weihnachten ist ja eher die besinnliche Zeit. Vielleicht der richtige Zeitpunkt mal zu fragen, was eigentlich das Ziel dieses Diskussionsstrangs ist.
Für viele sicher vor allem Trauer und Frust ablassen. Obwohl man ja eigentlich weiß (oder zumindest wissen sollte), daß es sich bei Top40 um Privatfunk handelt, also etwas, das nicht primär für irgendwelche Hörer, sondern für Anteilseigner mit Gewinnerwartung veranstaltet wird, tut es doch immer wieder weh, wenn etwas, das eine gewisse Menschlichkeit ausstrahlte und einen gewissen Zusammenhalt bot, abgewickelt wird.
Meine Wut zumindest speist sich da primär aus der empfundenen Ohnmacht: ich habe immerhin noch das Glück, mich tagsüber verkaufen zu dürfen und gerne auch 12 oder 14 Stunden einen Job zu machen, den eigentlich 2 oder 3 Leute zu bewältigen hätten. Ich bekomme sogar Geld dafür - mehr, als ich in "Echtzeit" zum Leben benötige. Aber ich kann mir dafür viele Dinge nicht kaufen, die ich zum Leben dringend brauche: eine humane Umwelt, ein Land ohne künstliche Werbefratzen, ohne Show, ohne Verlogenheit. Eine Umwelt mit gewissen Anstandsformen, Menschen mit Stil und eine Gesellschaft, die sich mit den wirklich wichtigen Dingen befasst und nicht nur mit neurotischem Scheiß. Bekomme ich alles nicht. Genau so fühle ich mich auch: wie ein Gefangener in einem Käfig, aus dem es kein Entkommen gibt außer dem Rückzug in die totale Isolation (die leider auch ihre Grenzen hat, von irgendwas muß man ja leben).
Was hat das alles mit Top40 zu tun?
Ich bin nicht über die Musik zu Top40 gekommen. Ich konnte genaugenommen bis ca. 2004-2005 überhaupt nichts mit den Hauptmusikfarben von Top40 anfangen. Aber Radio ist unter Umständen mehr als Musik - selbst auf einem Programm, das kein redaktionelles Wort hat.
Top40 eroberte mein Herz, weil es authentisch war, und das ist selten in der heutigen Zeit. Das, was Top40 da bot, bieten heute nichtmal mehr die meisten öffentlich-rechtlichen: Moderatoren ohne Maulkorb, einfach geraderaus und natürlich. Die Leute, die ich in diesem Umfeld kennenlernte, waren überaus angenehm und schienen erstmal nicht unbedingt zu Top40 zu passen: ein befreundeter Antennenbauer hat einigen Geschäftsführern (auch großer Unternehmen), Anwälten, 55-jährigen (!) Gymnasiallehrern, Ärzten und anderen extra Antennen für Top40 installieren müssen. Ich kann mir kaum vorstellen, daß alle diese Leute "Ummtzz-Ummtzz" mochten - sie mochten die Natürlichkeit des Programms, möglicherweise hielt es sie auch etwas jung.
Heute ist es mir wirklich wurscht, was da für Musik läuft. Sie könnte unter Umständen sogar näher an dem dran sein, was ich eigentlich bevorzuge. Anhören kann ich mir das Programm aber nicht mehr, denn die Hohlbirnen, die da heute angesprochen werden sollen mit vorgefertigter, restlos hirnbefreiter "Moderation", mit dummer Anmache, mit saublöder und völlig unwitziger "Comedy" und endlosen Wiederholungen teilen sich mit mir keinen Kubikmillimeter dieses Universums. Da ist es auch völlig wurscht, ob mit Heiko oder Björn zwei altbekannte Stimmen zu hören sind - das Produkt ist übelkeiterregend und 100% Verarschung, da reißen auch die beiden nichts mehr raus.
Das "Netz" ist keine Alternative, denn Netzstreams oder gar mühevoll selbst zusammenzuklickende Automatenabspieler ersetzen genau das, was ich bei Top40 nun vermisse, nicht. Ein MP3-Player und ein Automatenradio sind keine Menschen, keine ehrlichen, geraderaus ihre Meinung sagenden Moderatoren. Ich kann mich damit nicht identifizieren. Abgesehen davon habe ich "Netz" nicht bei mir, weder in meiner Arbeitsunterkunft und schon gar nicht mobil. UKW hatte ich hingegen schon.
Und selbst wenn es so etwas wie Top40 irgendwo im Netz gäbe, sei es aus Holland oder sonstwo her - niemals könnte es regional zu so einem Zusammenhalt führen, zu so einer Menschen verbindenden Sache. Top40 hatte in dieser Hinsicht - obwohl es etwas völlig anderes war - Parallelen zu DT64 Jahre vorher. Und so verwundert mich auch nicht, daß einer der externen "Hauptlieferanten" für Top40-Mucke 16 Jahre vorher bei Marusha im DT64-Studio aufgelegt hatte und später Marcos Lopez zu heißen Acts nach Leipzig holte.
Und jetzt kann mans ja auch sagen, weils vorbei ist: der Zusammenhalt und der Wille, Top40 zu bekommen, führte in Thüringen und auch außerhalb im Laufe der Jahre zu mehreren illegalen UKW-Frequenzen. Eine beschallte mal die Ecke zwischen Weimar und Ilmenau mit Top40, eine andere lief über mehr als 5 Jahre ununterbrochen (!!!) und versorgte einen ganzen Landkreis. Ich habe es mit eigenen Ohren gehört und mit eigenen Augen das dynamische RDS dazu gesehen - inklusive Verkehrsfunkschaltung. Nie ist es aufgefallen, wohl auch dank der DAB-Reichweite bis in diese Gegend nicht, so daß auch Hörer aus diesem Gebiet nicht im Programm auffielen. Diversen Foren-Nutzern in einem Parallelforum war es aufgefallen - sie verbuchten es ob der cleveren Frequenzwahl allerdings als beachtliche Überreichweite einer regulären Top40-Frequenz. Doch selbst diese "Überreichweite" hat Stil und ihre Funktion inzwischen längst eingestellt.
Und: dort, wo Top40 lief, lief faktisch nichts anderes: in der Pizzaria nicht, beim Friseur nicht, in der Notaufnahme des Krankenhauses (!) nicht. Die Leute wollten keinen synthetischen Scheiß, sie wollten echte Moderatoren, die für ein echtes Programm stehen.
Damit ist nun halt schluß. Ein Wunder, daß es überhaupt so lange ging. In mir kocht da immer wieder Wut hoch, weil mich das Schicksal von Top40 daran erinnert, welchen Platz diese Gesellschaft für mich (für uns?) vorgesehen hat: Fresse halten, Scheiße schlucken, bestenfalls völliger Rückzug aus der Gesellschaft. Wirklich, ein sehr feines Leben. Ich habe Bekannte, die nur noch aus Zynismus bestehen, warum wohl? Wenn alle, die dieses Schicksal betrifft und die sich dessen bewußt sind, auf der Stelle Totalverweigerung praktizieren würden, blieben manche Schulklassen ohne Lehrer, manche Notaufnahme ohne Ärzte und selbst die Mineralwasserflaschen blieben leer (*zwinker*).
Ich bleibe dabei: UKW-Frequenzen sind die Basis öffentlicher Kommunikation und damit gesellschaftlich ein wichtiges Gut. Sie gehören nicht in die Hände von Kräften, die damit nur ihren eigenen Profit / ihre eigene Macht mehren wollen. In einer intakten Gesellschaft gäbe es folglich keinen Privatfunk und das öffentlich-rechtliche System hätte auch völlig andere Strukturen.
Ich hoffe, daß das ganze Pack, das für den jämmerlichen Zustand unserer UKW-Landschaft (und der gesamten Gesellschaft) verantwortlich ist, irgendwann zum Teufel gejagt wird. Und ich weiß, daß ich vergebens hoffe.
(Vorhin Thommi einen Trailor auf egoFM sprechen gehört. Hab mich drüber gefreut, ich mag den Mann, der hat Stil. Leider kann er nicht mehr für die Region senden, in der ich sitze.)