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Was steht eurer Meinung nach hinter dieser Entwicklung?
Nun, ich würde es als eine Art selbsterfüllende Prophezeiung sehen. Fakt ist zunächst einmal, dass das Radio an Relevanz und Hörern verliert. Das ist auch kaum verwunderlich, wenn man sich betrachtet, dass es mittlerweile haufenweise Möglichkeiten für den Bezug von Nachrichten, Musik, Verkehrsinformationen und so weiter abseits des Radios gibt. Dass dabei dann der Anteil derer, die kein Radio hören, sondern sich dieser Alternativen bedienen, wächst, ist weder erstaunlich, noch ein Phänomen, das sich nur für das Radio beobachten lässt. In Bezug auf das Fernsehen ist es ähnlich und sogar noch deutlich stärker ausgeprägt.
Das Problem ist nun, dass man insbesondere beim ÖR aus der Tatsache, dass das Radio immer weniger Hörer hat, die Konsequenz zieht, die Programme immer mehr auszudünnen und die Gelder dafür zu kürzen, denn das Interesse daran ist ja immer geringer. Bis zu einem gewissen Grad verstehe ich das Ansinnen dahinter ja auch. Als von der Allgemeinheit finanzierter Sender muss ich natürlich darauf achten, dass ich nicht an den Bedürfnissen derer, die mich finanzieren, vorbeisende. Und wenn immer mehr Podcasts und nonlineare Fernsehinhalte gewünscht werden, muss ich Geld in die Hand nehmen, diese zu produzieren. Geld, das ich dann anderswo nicht mehr einsetzen kann. "Dann nehme ich es doch lieber von dort weg, wo es sowieso den Interessen von tendenziell immer weniger Menschen dient, eben zum Beispiel vom Radio", mag sich da manch ein Intendant denken.
Doch ist diese Konsequenz wirklich die richtige? Aus meiner Sicht währe es viel eher angebracht, das Radio zu stärken, damit es auch in einer Welt voller Streamingdienste und Podcasts bestehen kann. Das hat auch sehr viel mit dem Selbstverständnis des Mediums zu tun. Radio, das war früher einmal die hauptsächliche Musikquelle, das schnellste Medium der Welt, der Kanal, auf dem ich über die Situation auf der Straße informiert werde. Das sind alles Punkte, die ich heute genauso gut oder gar besser anderswo bekomme. Musik kriege ich auf mich persönlich zugeschnitten bei Spotify, Nachrichten lassen sich binnen Sekunden über das Internet verbreiten, während der Reporter vom Radio noch die Leitung testet und Verkehrsmeldungen kriege ich von der Navigationsapp meines Vertrauens für meine Strecke, ohne sie mir mühsam aus einer teils ellenlangen Aufzählung von Autobahnen und Anschlussstellen zusammensuchen zu müssen, deren Großteil für mich gerade überhaupt keine Relevanz hat. Mit diesen Punkten kann das Radio heute also wohl kaum noch jemanden überzeugen. Vielleicht wäre es also angebracht, sich und seine Stärken neu zu definieren. Der Weg wäre teils gar nicht so weit. Klar, das schnellste Medium wird man nicht mehr sein, wenn es um Vorortberichterstattung geht, hat das Internet klar die Nase vorn. Allein mit seinem Smartphone kann heute jeder zum Reporter werden, ohne Kamerateam, ohne Ü-Wagen, aber auch ohne jede journalistische Kenntnis. Und genau dort könnte das Radio ansetzen. Man kann zwar vielleicht nicht mehr das schnellste Medium überhaupt sein, aber wie wäre es mit dem Versuch, das Medium zu sein, dass die Geschehnisse am schnellsten journalistisch sauber aufbereitet? Oder das Thema Musik. Natürlich setzt sich heute niemand mehr vors Radio und nimmt die neusten Hits auf, allein schon, weil viele dieser neusten Hitz im Radio ja gar nicht mehr stattfinden. Wer sowas sucht, bekommt es heute bequem bei diversen Streamingdiensten. Und vor allen Dingen bekommt er dort ziemlich genau die Musik, die er mag. Je mehr er streamt, desto besser kennt der Algorithmus seine Vorlieben und bastelt anhand derer eine passende Playlist zusammen. Was darunter leidet, ist freilich der Überraschungseffekt. Also ist der Anspruch des Radios, der Musiklieferant schlechthin zu sein, zwar vielleicht überholt, aber was ist mit dem Anspruch, den musikalischen Horizont des Hörers zu erweitern? Durch Musikredakteure, die in der Flut an Musik nach den Perlen tauchen und durch Moderatoren, die es verstehen, Titel miteinander zu verbinden, die für sich genommen überhaupt nicht zueinander passen und daher wohl auch kaum in einer algorithmisch generierten Playlist hintereinander auftauchen würden?
Was ich dagegen in der Realität sehe, ist ein Radio, das zur Selbsstaufgabe neigt, das zwar erkannt hat, dass es mit seinen alten Stärken heute kaum noch auftrumpfen kann, gleichzeitig aber keine neuen Stärken und Ziele sucht und das sich dadurch selbst überflüssig macht. Das ist es, was ich eingangs mit der sich selbst erfüllenden Prophezeiung meinte: Radio verliert an bedeutung und tut kaum was dagegen.
Und wie findet ihr das als Radiofans?
Jetzt hab ich auf Deine vorhergehende Frage so viel geschrieben, daher beantworte ich diese nur mit einem Wort: Fatal!
Was müsste/ sollte sich verändern, wenn ihr das sagen hättet?
Es müsste etwas geben, das ich gern als (selbst)bewusstes Radio bezeichne. Das meint ein Radio, dass sich nicht hinter Spotify und Podcasts versteckt, weil es sich der Tatsache bewusst geworden ist, dass es ganz eigene Stärken hat. Einige habe ich oben ja schon genannt, andere sind zum Beispiel gerade in der so oft als Nachteil dargestellten Linearität zu suchen, Stichwort Lagerfeuer-Effekt. Ich will das anhand eines Erlebnisses schildern.
Wir befinden uns im März 2020, vor zwei Wochen wurde der Corona-Lockdown ausgerufen. Für mich bedeutet das, dass mein Internat in Marburg schließen musste und wir alle nach Hause geschickt wurden. Das Problem ist nun, dass eben dieses Zuhause, in diesem Fall Stuttgart, sich für mich überhaupt nicht wie eines anfühlt. Meine Mutter wohnt dort, aber mehr habe ich nicht mit der Stadt zu tun. Weder kenne ich mich dort aus, noch habe ich dort Freunde. Und das Internat in Marburg, das ich mein Zuhause nenne, ist für mich unerreichbar, meine Freunde nun über ganz Deutschland verteilt und niemand weiß, wie es jetzt weitergehen wird. Entsprechend trüb ist meine Stimmung. Dann, an einem Freitag, erzählt mir eine Freundin aus Frankfurt von einem Hörspiel, das heute Abend im hr laufen und wohl irgendwie besonders sein soll. Warum also nicht mal reinhören? Was dann ab kurz nach 22:00 Uhr aus dem Lautsprecher erklingt, ist das absolute Kontrastprogramm zu den letzten Wochen: Ein wahres Feuerwerk aus Gags, Anspielungen und jeder Menge guter Laune, eine willkommene Ablenkung, die ich nur zu gerne annehme.
Doch was im Anschluss passiert, ist sogar noch schöner. Der Abspann ist gerade erst verklungen, da schreibt mich die Freundin aus Frankfurt an. Sie hat das Hörspiel ebenfalls gehört und wir beginnen, uns darüber auszutauschen. Was haben wir alles an Anspielungen entdeckt, was fanden wir besonders witzig und so weiter. Da sitzen wir also gut zweihundert Kilometer voneinander entfernt und können uns trotzdem über ein Hörspiel unterhalten, als hätten wir es gerade zusammen gehört. Durch dieses Erlebnis ist mir eine ganz große Stärke des linearen Radios bewusst geworden: es ist in der Lage, Menschen miteinander zu verbinden. In dem Moment, in dem man das Radio einschaltet, ist man ein Teil einer großen Gemeinschaft von Menschen, die eben verbindet, dass sie alle in diesem Moment exakt dasselbe hören. Die meisten davon kennt man nicht und wird sie wohl auch niemals kennen lernen und wenn doch, dann wird man wohl nicht wissen, dass man irgendwann einmal dieselbe Radiosendung gehört hat, aber allein dieses Wissen darum, dass man dieses Hörerlebnis gerade mit hunderten, ja, vielleicht tausenden Menschen teilt, macht schon irgendwie etwas mit mir, wenn ich es mir einmal bewusst mache. Es grenzt fast schon an Magie, wie es auf diese Weise möglich ist, dass weit voneinander entfernte oder sich völlig unbekannte Menschen dieselben Höreindrücke haben. Eine Art Club der Eingeweihten entsteht. Und gleichzeitig kann Radiohören auch etwas sehr intimes sein. Ich hörte die Sendung im Bett, wieder jemand anders vielleicht in der Badewanne. Keine Orte, an die man in der Realität haufenweise wildfremde Menschen einladen würde. Radio kann Nähe und Distanz gleichermaßen schaffen, gerade so, wie es der Hörer will. Man kann sich über hunderte Kilometer hinweg miteinander verbunden fühlen und gleichzeitig aus dem direkten Umfeld für eine Weile in die große Gemeinschaft der Radiohörer hinausflüchten. Ein Aspekt, der zwangsläufig verloren gehen muss, wenn alle Inhalte nur noch aus Mediatheken gestreamt und von jedem zu einem anderen Zeitpunkt abgerufen werden.
Aber zurück zum (selbst)bewussten Radio. Mit genau solchen Möglichkeiten und Effekten müsste es spielen, Interaktion mit und zwischen den Hörern müsste ein wichtiger Bestandteil des Programms sein. Natürlich wäre so ein Radio, das seine Hörer ja bis zu einem gewissen Grad auch fordert, für nicht wenige zu anstrengend, ließe sich vielleicht nicht mehr so gut nebenher hören und hätte dadurch zunächst mal weniger Hörer. Natürlich will das erstmal niemand, denn kurzfristig gesehen würde man sich damit ja ins eigene Fleisch schneiden. Langfristig sehe ich aber in einem solchen Konzept die einzige Chance für das Radio, auch weiterhin bestehen zu können. Aktuell haben wir ja die paradoxe Situation, dass sich die meisten Radiosender nach genau der Zielgruppe richten, die die allerhöchste "Fluchtgefahr" hin zu anderen (hör)Medien haben. Sie setzen auf möglichst viel Musik und möglichst wenig Wort. Ein Ansatz, der Ende des letzten Jahrhunderts geradezu revolutionär war. So viel Musik quasi nonstop, da konnten viele Platten- und später CD-Sammlungen nicht mithalten. Heute ist das Mittel der Wahl, wenn es darum geht, sich bedudeln zu lassen, aber oftmals weder eine Sammlung von Tonträgern, noch das Radio. Streamingdienste stecken beide locker in die Tasche. Warum sollte diese Zielgruppe also langfristig gesehen noch Radio hören, wenn sie das, was sie im Radio findet, anderswo noch viel besser finden kann?
Und gleichzeitig gibt es die andere, wesentlich kleinere Gruppe, die vom Radio weit mehr erwartet. Sie ist zwar zahlenmäßig viel geringer und es erscheint daher auf den ersten Blick nicht sinnvoll, das Hauptaugenmerk auf sie zu legen, aber es ist eine ungleich dankbarere Zielgruppe, denn sie erwartet vom Radio Sachen, die so an sich nur das Radio bieten kann. Die "Fluchtgefahr" dieser Zielgruppe ist also eher gering, denn wohin sollte sie flüchten?
Nun mag mancher vielleicht einwenden, dass ein solches Konzept das Medium Radio endgültig in eine Nische verbannen würde und damit hätte er wahrscheinlich sogar recht. Es wäre nicht mehr das Massenmedium von einst, hätte dafür aber Zuhörer, die diesen Namen wahrhaftig verdienen, weil sie eben tatsächlich zuhören. Was ich dagegen befürchte, wenn man den Kurs der letzten Jahre einfach so beibehält, ist, dass am Ende überhaupt niemand mehr Radio hört. Die Einen, weil sie das, was sie im Radio finden, anderswo besser finden und die Anderen, weil sie das, was sie im Radio suchen, nirgendwo mehr finden. Zack, damit hätte sich die Prophezeiung selbst erfüllt.
Und was würdet ihr den Menschen, die für diesen aktuellen Entwicklungen verantwortlich sind gerne sagen?
Werdet Euch bewusst, was Ihr da für ein Medium in der Hand habt, mit welchen Möglichkeiten, welchen Stärken. Hört auf, es als eine Art schlechteren (weil linearen und dadurch unflexiblen) Musikstreamingdienst oder Podcastagregator zu sehen. Macht, wenn Ihr einsparen müsst, aus der Not eine Tugend und bietet besondere Sendungen als Gemeinschaftsprogramm an, anstatt sie einzustellen. Das waren jetzt mal drei Punkte, die mir sofort einfallen würden.
So, liest hier noch jemand mit? Wenn ja, dann gilt ihm mein voller Respekt, dass er sich durch diesen Wortschwall gekämpft hat. Es tut mir leid, aber manchmal packt es mich einfach und dann bin ich nur noch schwer zu bremsen. Ich danke für Eure Aufmerksamkeit.