AW: Der Amoklauf und die Medien
HR-Info hat die Frage, wieviel Amoklauf in den Medien sein müsse, letzten Samstag schon gestellt, vor dem Hintergrund, ob es nicht gerade die Medienpräsenz sei, die Trittbrettfahrer am meisten motiviere. Eine schlüssige Antwort kann es darauf nicht geben, ich stimme aber vollkommen zu, daß solche Ereignisse regelmäßig zu viel Medienaufmerksamkeit bekommen.
Niemand, außer den unmittelbar und mittelbar Betroffenen, kann etwas zur Sache beitragen. Egal, über welches Ereignis man spricht, wenn ich einem der Betroffenen (sofern ich ihn nicht persönlich kenne) mein (durchaus ehrlich empfundenes) Mitgefühl ausdrücke, ändert das für diesen Menschen was? Genau gar nichts, weil ich ihm von vornherein nichts bedeute. Insofern reicht für mich als Nicht-Betroffenen die Information, daß das Ereignis passiert ist und dann die Informationen, die sich in der Folge daraus ergeben (im für diesen Thread zentralen Fall zum Beispiel die Diskussionen um Computerspiele und Waffenbesitz).
Die Schwierigkeit beginnt immer da, wo es nahe an die Menschen herangeht, die wirklich betroffen sind. Natürlich ist es wichtig, zu wissen, was einen Menschen zu so einer Tat bringt, und sei es nur, um vielleicht in Zukunft Warnzeichen eher erkennen zu können. Verhindern kann man solche Verbrechen nie, das liegt in der Natur der Sache. Ebenso ist es schwierig, abzuwägen, wieviel Information man preisgeben darf. Es ist zum Beispiel eine Gratwanderung, inwieweit man die Eltern hier "reinziehen" sollte. Die Eltern haben niemanden getötet. Bevor jetzt der große Aufschrei kommt "aber die haben...!" Ja, natürlich, die Waffe und zugehörige Munition lagen offen herum, das streitet niemand ab.
Trotzdem stelle ich hier ganz ketzerisch die Behauptung auf, daß das nicht Kern des Problems ist. Dazu ein paar Gedankenexperimente: Hätte sich der Junge nur selbst damit erschossen, hätte das so einen Medienrummel gegeben? Sicherlicht nicht. Spätestens nach zwei Tagen hätte kein Hahn mehr danach gekräht. Hätte der Vater seine Autoschlüssel liegen lassen statt einer Waffe und der Junge hätte in einer Fußgängerzone 15 Menschen totgefahren und sich danach mit 200 um 'nen Baum gewickelt, hätte man dann gefordert, Autoschlüssel fürderhin im Tresor wegzusperren?
Nochmal. Eine Waffe ist als Tötungsinstrument erdacht und hergestellt. Ein Auto ist als Fortbewegungsmittel konzipiert. Das ist mir sehr wohl bewußt. Trotzdem gibt es hier Parallelen, die man untersuchen kann, nämlich: warum gibt es so ein riesiges Medieninteresse und in der Folge: warum kommt es zu solchen Auswüchsen dabei.
Die erste Frage ist von wineandradio, wie ich finde, sehr gut beantwortet worden und liefert indirekt auch gleich die Antwort auf Frage zwei: warum kommt es zu solchen Auswüchsen?
Die Antwort sehe ich ebenso einfach wie unangenehm: weil wir Menschen einem gewaltigen Irrtum erlegen sind, nämlich dem Irrtum vernunftgesteuert zu sein. Oh mein $GOTTHEIT! Schon wieder so ein Frevel! Wie kann ich es wagen, uns Menschen als nicht vernünftig hinzustellen?!? Gemach, ich erkläre es. Natürlich sind wir Menschen vernunftbegabt. Es zeichnet uns Menschen aus, daß wir ein großes Gehirn haben, das wir für viele nützliche Dinge verwenden können: wunderschöne Gärten anlegen, Oratorien schreiben, launige Texte verfassen, Auto fahren, philosophieren, um nur einige ganz wenige zu nennen. Diese Fähigkeiten verführen (auch mich, übrigens) dazu, sich zurückzulehnen, sich selber auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: "Boah, bin ich toll, Mann! Ey!" - und es dabei zu belassen. Was wir gerne (und auch da nehme ich mich nicht aus) übersehen, ist, daß das alles zwar im Grunde richtig sind, wir aber den Blick zurück vergessen: wo kommen wir her? Genau, ich will den Bogen zur Evolution spannen. Wenn wir uns diese anschauen, stellen wir fest, daß wir mindestens genaus instinktgetrieben wie vernunftbegabt sind. Ich will gar nicht darauf hinaus, ob das eine besser oder stärker ist, als das andere, das spielt für diese Betrachtung gar keine Rolle. wichtig ist nur: wir dürfen das animalische in uns nicht vergessen, es spielt eine große Rolle.
Auch, wenn wir in unserer Gesellschaft viele kluge Regeln zum Zusammenleben (vulgo: Gesetze) aufstellen, begenet uns doch das uralte "Recht des Stärkeren" auf Schritt und Tritt: das fängt hier im Forum an (wer am lautesten brüllt, hat Recht) und endet bestimmt nicht bei der armen Verkäuferin aus dem Zapp-Beitrag, die der Reporter zu manipulieren versucht, indem er ihr vorwirft, einen "Schuldigen decken" zu wollen, weil sie ihm seine blöden Fragen (die im Übrigen vermutlich außer der vermeintlichen Befriedigung von Sensationsgier keinen wesentlichen Beitrag zur Situation dargestellt hätten) nicht beantworten will. Oder kann.
Das Vernunftbegabte Wesen Mensch hat mit Humanismus und Ethik zwei mächtige Werkzeuge geschaffen, die es ihm ermöglichen würden, seinen eigenen Ansprüchen an sich selbst durchaus gerecht zu werden - wenn es ihm gelänge, sich seines instinktiven Wesens bewußt zu werden und es sicher zu verwahren. Die Wahrheit sieht indes ein wenig trostloser aus, die österreichische Band "Erste Allgemeine Verunsicherung" bringt das in ihrem Song "Neandertal" schön auf den Punkt: "Humanismus und menschliche Ethik bringen keine Kohle, darum hamma's auch ned nötig...", denn spätestens, wenn wir beim Geld angelangt sind paßt alles wunderbar zusammen:
Unsere eigene Sensationsgier (das wohlige Erschauern angesichts des Leides anderer (sage mir keiner: "das gibt es nicht", denn warum sonst schauen wir uns Horrorfilme an, haben "blutige" Nachrichten die besten Einschaltquoten?!), gepaart mit dem Recht des Stärkeren ("je unverfrorener ich vorgehe, umso skandalträchtigere Nachrichten kann ich produzieren") und das Ganze dann vermischt mit einer Prise Geschäftssinn (je skandalträchtiger die Nachrichten, desto mehr Zuschauer/-hörer woraus folgt bessere Reichweite woraus folgt bessere Verhandlungsbasis meinen Werbekunden gegenüber woraus folgt fettere Boni für *MICH*) ergibt die unheilige Allianz, die wir allerorten sehen.
Damit will ich auch das Geld nicht verteufeln, auch Geld ist nur ein Mittel. Das, was *wir* daraus machen, *das* bestimmt, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Und wenn wir halt Wert auf Geld, Autos, Waffen, das Recht des Stärkeren und unsere eigene Sensationsgier legen, dann bekommen wir genau die Gesellschaft und Medienlandschaft, die wir verdient haben.
Traurig, aber wahr.
LG
McCavity
Ein kleiner Gedanke zum Schluß noch: wie gefiele Euch eine Welt, in der morgen zum Zeichen der Solidarität mit den Trauernden *alle* Medienleute und *alle* weder mittelbar noch unmittelbar Betroffenen, die *nicht* direkt aus der Stadt stammen, den zentralen Trauerfeiern fernblieben, wenn die *lokalen* Medienleute angemessen darüber Bericht erstatteten und diese Berichte dann von den anderen Medien übernommen würden? Alle wären informiert und ich bin sicher, es würde sich keiner einen Zacken aus der Krone brechen. All die Journalisten, die ja so einen "Scheiß-Job" (Zitat eines der Photographen aus dem Zapp-Beitrag) haben, könnten sich ruhigen Gewissens entspannen...