Wenn das mit der Klassik so überaus genial ist, weshalb hat z.B. dann SWR2 nur ca. 310.000 Hörer, das Schlagerprogramm SWR4 Baden-Württemberg aber etwa fünfmal so viel? Nur an der regionalen Berichterstattung kann es doch nicht liegen, denn der Schlageranteil ist ja mit ca. acht Titeln pro Stunde schon außerordentlich hoch.
Ich kenne keine Statistiken, aber ich vermute, daß die meisten Antworten sich um folgende drei Faktoren drehen:
bei klassischer (im Sinne von "E-Musik") benötigt man in der Regel
a) mehr Ruhe. Kaum etwas ist mehr Perlen vor die Säue als ein inniges Adagio oder Largo in der Hintergrundbeschallung des Tagesgeschäfts.
b) eine größere Aufmerksamkeitsspanne. Nicht nur, weil einige Stücke länger dauern, sondern auch weil sich Themen im Regelfall anders entfalten, teilweise über mehrere Sätze eines Konzerts/einer Sonate/einer Sinfonie/usw. hinweg.
c) eventuell Hintergrundwissen. Man sollte nicht vergessen, daß unsere "Klassik" einen Zeitraum von etwa 1.000 Jahren abdeckt, angefangen bei den Gregorianischen Gesängen des 10. Jahrhunderts bis hin zur Zwölftonmusik oder den Klangexperimenten des 20. Jahrhunderts. Manche Sachen kann man heutzutage nur verstehen, wenn man sie aus der Zeit heraus betrachtet oder wenn man mit den vertonten Themen vertraut ist. Bei Musikveranstaltungen gibt es häufig noch die Möglichkeit, mittels Programmheft kurzfristig diese Wissensbasis zu schaffen, bei Radiosendungen geschieht das in der Regel durch eine kurze Einleitung vor dem Beginn eines Stückes. In beiden Fällen ist das "spätere Einsteigen" natürlich ein Problem. Insofern schätze ich, daß die meisten (potentiellen) Klassikhörer sich gezielt Sendungen aussuchen und weniger "zappen" als die Schlagerhörer. Ich hab' mich auch schon mit Internetradiobetreibern kurzgeschlossen und ich habe zumindest oft genug mitbekommen, daß diejenigen, die Pop, Rock oder Schlager im Angebot hatten, oft mehr Hörer hatten als Klassik-Streams, daß diese Hörer allerdings im Schnitt auch deutlich kürzer blieben als bei den Klassikern.
Klassische Musik wird als Bildung und Kultur gesehen, schön und gut. Aber worin besteht eigentlich diese Bildung? Darin, ein 15 Minuten-Stück von Brahms 15 Stunden lang auseinander zu nehmen? Darin, in eben solche Werke Intuitionen der Komponisten hineinzuinterpretieren, über die objektive Zeugnisse überhaupt nicht existieren?
Sagen wir mal: die Diskussion kann man auf vielen Ebenen führen. Ich habe bis heute auch nicht kapiert, warum André Rieu tendenziell zur "Klassik" oder zur "E-Musik" gezählt wird, ebenso wie diverse Variationen des Trios der Fünf Verschmalzten Tenöre, während ich jemanden wie Björk oder Bob Dylan unter "U-Musik" finde.
Darin, dem Musiker bei der Aufführung so oft jedwede Möglichkeit zur Improvisation und damit zur subjektiv-geistigen Weiterentwicklung von Musikstücken zu verbieten?
Autsch, da wäre ich vorsichtig. Erstens gibt es nun wirklich genügend Stücke, bei denen die Komponisten den Solisten Freiheiten einräumen oder in denen sich die Solisten selbige nahmen (Stichwort: "Kadenz"), zweitens gibt es enorme Unterschiede bei der Auslegung, sprich: der Interpretation eines Notentextes. Ein Karl Richter bringt Händels "Messias" völlig anders zu Gehör als ein Helmuth Rilling, Bachs "Goldberg-Variationen" sind in der Interpretation von Glenn Gould und Daniel Barenboim zwei Stücke, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten, und eine Operettenaufnahme aus den 40er oder 50er Jahren setzt im Regelfall andere Schwerpunkte als eine von heute.
Was gibt der Klassik diesen ewigen Freibrief des Intellektuellen, den sie schon so lange innehat? Ich behaupte überhaupt nicht, Schlager sei von der Machart, von der Melodik, vom Text her grundsätzlich gebildet. Aber ist der Inhalt des Textbuches zu Mozarts Zauberflöte wirklich gebildeter? Meiner Meinung nach ist das eine ziemliche Kitsch-Story, die ihresgleichen sucht.
Die Einschätzung ist schon korrekt. Allerdings muß man auch anerkennen, was Mozart aus den billigen Texten mit Hilfe seines melodischen Einfallsreichtums gemacht hat.
Klassik ist nicht "intellektuell". Vieles entstand zwecks der Pädagogik, aus kommerziellen Gründen oder schlicht zur Unterhaltung oder Hintergrundbeschallung, gegebenenfalls auch als Gottesdienst. Auf dem Schuttabladeplatz der Zeit sind auch unendlich viele klassische Stücke gelandet, weil sie einfach nichts Besonderes waren, zur falschen Zeit am falschen Ort entstanden/erschienen, schlicht Pech hatten, oder, um einen Schritt weiter zu gehen,
weil sie intellektuell waren und aus genau diesem Grund ein zu kleines Publikum hatten. In dieser Hinsicht nehmen sich alle Formen der Kunst nicht viel.
"Klassik" ist nichts Anderes als eine Quintessenz aus Stücken oder Komponistennamen, die nicht unbedingt "intellektuell", sehr wohl aber so prägend oder einprägsam waren, daß sie sich - vielleicht auch mit Unterbrechungen - bis heute gehalten haben, plus ein bißchen Wildwuchs links und rechts davon. Das "Intellektuellste" an der Klassik ist wahrscheinlich das Wissen darum, worauf man zu achten hat, in der Regel auf die Feinheiten. Unter diesem Gesichtspunkt ist "Klassik" nicht mehr oder weniger intellektuell als Musik aus Fernost ...
(Ich höre mir ja auch gerne mal klassische Musik an. Aber nicht, weil ich die besonders kompliziert gebaut finde oder mich dann intellektuell fühlen kann, sondern einfach, weil sie mir gefällt. Und dieses Gefallen ist für mich ein psychisch-emotionaler Empfindenszyklus, den kann ich aber bei so manchem Schlagermachwerk gleichermaßen verspüren. Beispiele kann ich gern liefern.)
Ist ja auch gut so, Vielseitigkeit schadet nimmer nicht. Und solang's gefällt und man nicht damit anfängt, die eigenen Vorlieben als Evangelium zu predigen, isses doch in Ordnung.
Gruß
Skywise