Naja, um die Jahrtausendwende stimmt nicht ganz. WDR 4 hat erst 2011 die Schlager entsorgt, was ihnen auch enorme Hörer gekostet hat. Bayern 1 war früher dran, das stimmt, ebenso die 1er-Wellen des MDR. Selbst NDR 1 Niedersachsen hat der Schlagerdezimierung allerdings lange getrotzt und die Ausrichtung der Einser-NDR-Wellen hätte es nicht mal unbedingt gebraucht, weil sie ohnehin werbefrei sind.
Die Argumentation, dem Schlager sterben die Hörer weg, war ohnehin fadenscheinig, um eine andere Expertise voranzutreiben, nämlich alles zu entsorgen, was polarisiert. Schlager werden entweder gehasst oder geliebt. Die Oldies sind meist älter als die Schlager, tun jedoch nicht so weh und werden deshalb auch weiterhin gespielt (englisch versteht ja keiner). Dieser Effekt ging bereits in den 90ern los, als Eurodance massenhaft gemieden wurde.
Dabei übersieht das deutsche Radio aber eine wichtige Sache: Was geliebt wird (also Emotionen auslöst), wird auch eingeschaltet. Heißt, man schafft Impulse. Natürlich läuft man Gefahr, dass gewisse Songs nicht gemocht werden. Aber was polarisiert, schafft auch Begeisterung. Die Niederländer und Belgier haben den Trend erkannt und eine Tugend daraus gemacht, die sich "foute uur/uren" nennt, also Sendestrecken, in denen bewusst "schlechte Musik", also polarisierende Musik aus neu und alt gespielt wird. Kommt bei ALLEN Altersschichten gut an.
Was möchte ich damit sagen? Dass Einschaltimpulse erzeugen und Ausschaltimpulse vermeiden unterschiedlicher nicht sein können, sich aber dennoch gut kombinieren lassen. Ein Weg könnte hierbei über die Philosophie "Man führt die Leute mit Kleinigkeiten" gehen, also indem man vereinzelt polarisierende Songs einstreut oder eben entsprechende Sendestrecken daraus macht. Heute ist man so ängstlich, dass man lediglich Ausschaltimpulse vermeiden möchte, den Spagat zwischen "Hurra" und "Risiko" aber nicht einmal versucht. Ich bleibe allerdings optimistisch, dass dieser Trend nicht auf ewig anhält, gerade in Anbetracht der Konkurrenz durch die Streamingdienste. Das deutsche Radio muss sich neu erfinden und zum ersten Mal einen anderen Weg gehen als den der Vermeidung. Dass dies gelingen kann, zeigen gewisse Private aus Österreich (U1, Grün-Weiß), die mit ihrer Ausrichtung durchaus Erfolg haben.