AW: Radiocamp 2009
Wer will, kann sich in diesem Zusammenhang auch einmal mit der Frage beschäftigen, wieviel Prozent der Blogs von niemandem gelesen werden. Oder z.B. Flickr-Fotos mit einstelliger Abrufzahl anschauen.
Ich habe das Thema schon des öfteren in passender Runde angesprochen: wer hat so viel Zeit, zu bloggen, zu podcasten, private Videos zu drehen, zu schneiden und hochzuladen, zu twittern und was weiß ich? Befriedigende Antworten bekam ich keine, nur den oft gehörten "Rat", ich solle "mein Leben ändern", um selbst mehr Zeit für so etwas zu bekommen.
Die Realität sieht doch so aus: wer wirklich im Leben steht, hat schlicht keine Zeit für so etwas.
Mein Chef ist knapp 41, ein intelligenter Mann, viel Verantwortung, viel unterwegs. Musik kann er, wenn überhaupt, nur im Auto zwischen zwei Terminen hören. Da stecken etliche CDs mit Mucke zwischen Klassik und Rammstein im Player. Meist telefoniert er aber stundenlang dienstlich auf der Autobahn, die Zeit muß genutzt werden. Wenn er es einmal pro Woche schafft, noch im Chor zu singen, hat er ne gute Woche gehabt. Was "Twitter" ist, weiß er vermutlich ebenso wenig, wie er Zeit hat, Videoblogs zu sehen oder gar zu erstellen. In solchen Umfeldern gibt es ja auch Zeitmanagement-Kurse, die werden schon ihren Grund haben.
Mein bester Freund ist 35, verheiratet und hat zwei Kinder. Er ist promovierter Physiker, seine Frau Gymnasiallehrerin. Die Kinder sind im Kindergarten bzw. in der ersten Klasse. Früh um 7:10 verlassen alle das Haus: er mit dem Großen zu Fuß Richtung Schule, er danach gleich auf Arbeit. Sie mit dem Kleinen im Auto zum Kindergarten und anschließend auswärts auf Arbeit. Sie kommt am Nachmittag irgendwann zurück, holt die Kinder ab. Er stößt gegen 17 Uhr dazu und hat dabei noch richtig Glück gehabt: arbeitete er bei mir, wäre er vor 20 Uhr nicht zu Hause.
Dann Spielen mit den Kindern, Abendbrot, Sandmännchen, Kinder ins Bett bringen. Die Frau bereitet dann den kommenden Schultag vor, korrigiert Klausuren etc. Er bringt die Wohnung in Ordnung, macht Hausordnung, wenn sie dran sind, geht vielleicht 2 mal pro Woche zum Lauftraining und einmal mit mir in die Schwimmhalle. Jetzt kaufen sie einen Geschirrspüler, weil es einfach zeitlich nicht mehr zu machen ist, noch von Hand abzuwaschen. Zwischen 22 und 22:30 Uhr geht das Licht aus - der folgende Tag beginnt ja 6 Uhr.
Medien? Ja: 1000er DSL (mehr geht nicht), das nutzt die Frau für die Arbeit. Wenn ich meinem Freund eine Mail schicke, findet er die zuweilen erst nach 2 Wochen, wenn er wieder mal abruft. TV ist winzig und in eine Art "Abstellraum" verbannt, mehr als Sandmännchen läuft da nicht. Im Wohnzimmer gibt es eine kleine Stereoanlage, auf der ich mal Antenne Thüringen (offenbar für die Frau) eingestellt fand, die CD-Sammlung ist klein und beinhaltet bestenfalls paar Phil-Collins- oder Kuschelrock-Alben. Mein Freund hört gar keine Musik. Dafür ist eine klassische regionale Tageszeitung (die aus Papier) abonniert.
Ein weiterer Schulfreund, auch promovierter Physiker, verheiratet, Frau auswärts berufstätig im Medizinbereich, 2 Töchter im schulpflichtigen Alter: er bringt früh die Kinder in die Schule und fährt dann ins Institut. Die Frau fährt auf Arbeit, kommt abends irgendwann zurück. Er holt die Kinder ab, sie essen Abendbrot, danach geht er wieder auf Arbeit, oft bis 22 Uhr. Medien? Wann denn? Immerhin nimmt er sich die Zeit, ab und an mal paar Fotos zu machen und nachzubearbeiten (er fotografiert RAW).
Ich schaffe auch ohne Familie einen vollen Tag: um 7:15 richtung Arbeit los, oft erst gegen 20-22 Uhr zurück. Daß ich weder Radio, TV noch Internetanschluß unter der Woche habe, ist kaum ein Verlust - ich hätte eh keine Zeit, die ich da investieren könnte. Selbst gestern (Sonnabend) saß ich 2 Stunden für die Arbeit, telefonisch vernetzt mit einem Kollegen. Den meisten Berufstätigen sollte es ähnlich gehen, Freiberuflern und Pendlern noch derber.
Wer also nutzt die hübschen neuen Medien? Wer hat so viel Zeit?
Mir schwant was: die Nutzer sind keinesfalls eine gesellschaftliche Mehrheit. Wären sie es, bliebe das Leben und die Wirtschaft stehen. Wir sollten also aufpassen, für wie relevant wir diese Entwicklungen halten. Noch muß sich die Mehrheit ihr Brot selbst verdienen und hat also wichtigeres zu tun.
Oder in einer reichlichen Stunde in einem anderen RBB-Programm
Danke, hätte ich wieder vergessen. Bin dran. Eben lief es.
Ich bin ja sehr für "Pferd FM". Die anderen Radio-Therapie- und Selbsthilfegruppen im Netz sind aber auch nicht ohne.
Orientierung in der digitalen Welt
"Digitale Demenz" war dann auch ein schönes letztens gehörtes Schlagwort, das bezog sich aber auf den Unwillen, ein Navi ins Auto einzubauen.