Jetzt ist man sogar stolz keinee Schlagerwelle mehr zu sein. Ohjee, ohjee, WDR 4 hat seine Seele und seine Werte verraten und verkauft. Dietmar Kindler hätte damals sein Baby patentrechtlich schützen lassen sollen...
Antworten
·
Bruno Kassel
vor 47 Minuten (bearbeitet)
+
Helmut Oberhase
Nun, ganz so platt sollte man das nicht sehen.
Stellen Sie sich doch mal eine Minute lang vor, daß Sie eine Firma leiten, die vor 30 Jahren ein neues Produkt am Markt platzieren konnte (Auto, Kosmetik, etc.). Es gab viele Kunden für Ihr Produkt, der Erfolg hielt jahrzehntelang an. Doch dann stellen Sie eines Tages fest, daß die Kundschaft dieses Produkt immer weniger annimmt und die Resonanz deutlich nachlässt. Dann werden Sie doch sicherlich versuchen, Ihr Produkt den heutigen Markterfordernissen anzupassen – was ja vollkommen legitim ist.
Umgesetzt auf WDR 4 bedeutet dies folgendes: die Hörer, die 1984 beim Start des Senders begeistert einschalteten und die Schlager der damaligen Zeit hörten, sind inzwischen ... sagen wir es ganz deutlich ... so nicht mehr vorhanden. Entweder hat sich ihr Musikgeschmack verändert, oder sie schauen sich mittlerweile die Radieschen von unten an.
Wenn man also (bei gleichem Angebot) über viele Jahre sinkende Einschaltquoten verzeichnet, hat man wie immer im Leben zwei Möglichkeiten: entweder man lässt alles unverändert und riskiert damit, daß die Einschaltquoten irgendwann am Nullpunkt ankommen, oder man überlegt sich eine Strategie, wie man diesen Trend stoppen und wieder mehr Zuspruch erreichen kann.
Wenn man bei WDR 4 also feststellt, daß viele der Hörer, die mit uns "groß geworden" sind, zusammen mit dem Sender auch 30 Jahre gealtert (oder inzwischen verstorben) sind, dann muß man versuchen, am anderen Ende der Skala neue Hörerschichten an diesen Sender zu binden.
Diese neuen Hörerschichten sind musikalisch jedoch vollkommen anders sozialisiert worden: sie haben direkt oder indirekt Woodstock miterlebt, sie sind mit den Beatles, The Who, Led Zeppelin, Deep Purple, "Saturday Night Fever" oder Emerson, Lake & Palmer erwachsen geworden, sie haben in ihren Studenten-WG's hier und dort mal gekifft und vom Minirock über Joseph Beuys bis hin zu Tschernobyl eine andere kulturelle Prägung erfahren.
Diesem Umstand muß eine Radiowelle beim Versuch der "Verjüngung" natürlich Rechnung tragen. Gleichzeitig stellt sich aber das Problem der Quadratur des Kreises, denn man will ja mit der Veränderung des Programms nicht all die vergraulen, die heute den Schwerpunkt unserer Hörer ausmachen, und die immer noch ein großes Interesse an deutschem Lied- und Kulturgut haben.
Das führt dann in der Praxis dazu, daß im heutigen Programm von WDR 4 kein Freddy Quinn oder kaum noch Peter Alexander stattfindet, sondern die "Schlager" der Sixties, Seventies, Eighties und Nineties gespielt werden – und das (Sie mögen es nun glauben oder nicht) mit wachsendem Erfolg!
Dabei wird die deutsche Musikszene beileibe nicht ausgespart, denn in unserem Programm finden sich zu fast jeder Stunde viele Titel deutscher Musiker: von Maffay, Carpendale, Rosenstolz, Prinzen und Unheilig über Silbermond, Helene Fischer, Hannes Wader, Tom Gaebel oder Grönemeyer bis hin zu Element Of Crime, die gestern im Live-Interview zu hören waren. Und all dies im Mix mit englischen "Schlagern" von Manfred Mann, Stevie Wonder, Everly Brothers, Abba, Chicago, Foreigner, Bruce Springsteen, Cat Stevens, Bee Gees, Equals, Robbie Williams, Sting, Tina Turner, Joe Cocker, Supertramp, Tom Jones oder den Eagles – um nur einige zu nennen.
Wäre Ihr Produkt also beispielsweise ein Auto, sähe es heute auch nicht mehr so aus wie 1984, denn es liesse sich inzwischen nur noch mit Katalysator, Bremskraftverstärker und Sicherheitsgurten erfolgreich vermarkten.
Wäre Ihr Produkt ein Haarspray, so wäre es heute auch nicht mehr das Gleiche wie vor dreißig Jahren, hätte kein FCKW mehr und müsste sich genauso wie ein Radiosender den Mitbewerbern im Markt stellen.
Dies alles sage ich nun nicht als sogenannter "Programmentscheider", sondern als einfacher Mitarbeiter in der Redaktion, der verstanden hat, daß sich (wie bei mir selbst übrigens auch) die Hörgewohnheiten der Leute innerhalb von drei Jahrzehnten massiv verändert haben.
Was ja übrigens nicht nur den Musikgeschmack der Leute anbelangt, denn das Problem der Erneuerung stellt sich ja auch jedem Fernsehsender und jedem Theater: für cineastische Meilensteine wie beispielsweise den Filmen von Jacques Tati (
"Die Ferien des Monsieur Hulot" /
"Mein Onkel" ) mit seinen langen ruhigen Bildeinstellungen gibt es im Zeitalter der MTV-Bildästethik nur noch vereinzelt im Programmkino ein kleines Publikum, und im Theater kann man heute die Klassiker auch nicht mehr so präsentieren wie zu Beginn der Achtziger.
Ich lese täglich die Mails der Zuhörer von WDR 4, wobei zugegebenermaßen auch viele sind, die der Programmreform nichts abgewinnen können und die uns beschimpfen wie ein Rohrspatz. Doch erhalten wir auch zahlreiche Feedbacks, die uns beglückwünschen und froh darüber sind, endlich "ihre Musik" im Programm zu finden.
Die steigenden Einschaltquoten scheinen uns darin zu bestärken, den richtigen Weg gegangen zu sein bzw. zu gehen.