AW: Hochdeutsch(e) in der Schweiz verhaßt - was für ein Armutszeugnis!
Hallo zusammen
Als Schweizer habe ich die bisherige Diskussion mit grossem Interesse mitverfolgt und möchte nun zu einigen Aussagen Stellung nehmen / Erklärungsversuche unternehmen.
Tatsächlich gab es in der Schweiz immer wieder tendenziöse Berichte wie z.B. im schweizerischen "Bild"-Pendant "Blick", der einmal fragte: "Wie viele Deutsche verträgt die Schweiz?" (Link:
http://www.blick.ch/news/schweiz/deutsche/artikel56129) Solch unverständliche Headlines schüren die Angst vor dem "grossen Nachbarn" beim - aus meiner Sicht - dummen Teil der Schweizer Bevölkerung.
Ich selbst habe ein gutes Verhältnis zu Deutschen in der Schweiz und pflege regen Kontakt mit vielen deutschen Freunden. Und so ist es mit der Mehrheit der Schweizer.
Nun gibt es aber leider auch die politisch rechte Ecke, die sich gegen aussen verschliesst und am liebsten nur Schweizer auf dem unsrigen Arbeitsmarkt hätten. Deutsche Ärzte und neuerdings auch viele Pfarrer nähmen den Schweizern die Arbeitsplätze weg, wird argumentiert - die Wahrheit: es gibt zu wenig Einheimische, welche die Qualifikationen für diese Jobs mitbringen, und man sollte eigentlich froh sein über deutsche "Fremdarbeiter".
Manchmal schlägt die Angst vor den Deutschen in verachtenswerten Fremdenhass um wie bei Katrin Wilde. An dieser Stelle sei aber nochmals betont: Die Mehrheit der Schweizer tickt durchaus noch richtig und sieht die deutschen Nachbarn als liebe Freunde.
Ich denke, es kommt auch auf die Lage an: In Grenzgebieten wie z.B. Basel oder Richtung Bodensee ist die Beziehung zu den Deutschen eher besser, während in der zentralen Schweiz eher deutschenfeindliche Tendenzen zu spüren sind. Ursachen dafür zu finden und aufzuzählen würde die Länge eines Forenbeitrags sprengen.
Bevor ich in einem zweiten Teil darauf eingehen werde, weshalb "Hochdeutsch" am Radio nicht beliebt ist, das aber kaum etwas mit Fremdenfeindlichkeit zu tun hat, möchte ich noch eine Frage beantworten:
Zwerg#8 schrieb:
Nur nebenbei: Auf DRS2 lief heute nach Mitternacht eine Sendung in "Deutsch" (Nachtlese?). Es ist mir beim zappen sofort aufgefallen, daß die beiden Moderatoren (Mann/Frau) "ordentlich" gesprochen haben. Vielleicht war das aber nur eine aus DE importierte Sendung.
DRS2 sendet als Kulturprogramm mehrheitlich hochdeutsche Sendungen. Die Sendung ist nicht aus Deutschland importiert, sondern wird wie alle anderen Sendungen von DRS2 im Studio Basel produziert - wenn's "ordentlich" klingt, können das auch Schweizer mit Schauspielausbildung sein oder eben deutsche Moderatoren, von denen es ja in der Schweiz angeblich keine geben soll.*hirnkratz*
Nun zum Unterschied / Verhältnis Deutsch - Schweizerdeutsch:
Du vergißt dabei, daß Deutsch in beiden Fällen die - linguistisch korrekt ausgedrückt - Standardsprache ist und das Schweizerische lediglich ein Dialekt.
Schweizerdeutsch mag von irgendwem als "lediglich ein Dialekt" aufgefasst werden - so einfach ist es aber nicht: Im deutschen Teil der Schweiz gibt es mit "Züridütsch", "Sangallerdütsch", "Walliserdütsch" etc. zahlreiche Dialekte, die sich stark von einander unterscheiden. Untereinander versteht man diese Dialekte bis auf einige Wörter problemlos.
Nicht ganz klar scheint mir, ob "der Schweizer" (ich erlaube mir mal diese Verallgemeinerung, obwohl ich sie nicht teile) eher eine Aversion gegen Deutsche oder eher eine Aversion gegen das Hochdeutsch als Sprache hegt. Oder beides?
Eine wichtige Frage! Die Schweizer, welche die Schriftsprache erst im Unterricht kennenlernen, mühen sich oft damit ab wie mit einer Fremdsprache. Schriftliche Sicherheit stellt sich bei den meisten mit der Zeit ein, wohingegen die meisten Schweizer ihr Leben lang kein richtiges / akzentfreies Hochdeutsch sprechen können. So erinnert ein perfektes Hochdeutsch im Radio die Schweizer vermutlich an ihre eigenen Probleme beim Sprechen. Das kann sogar soweit führen, dass Schweizer, welche akzentfreies Standard-Deutsch beherrschen, von ihren Kollegen verspottet werden. Diese Aversion gegen die hochdeutsche Sprache auf Grund der eigenen Unfähigkeit ist also latent vorhanden.
Ein wichtiger Aspekt:
Ich denke, im normalen Unterhaltungsprogramm ist es am angenehmsten, wenn man die Sprache hört, in der man denkt. Und das ist nun eben bei den meisten Deutschschweizern nicht Hochdeutsch, sondern Dialekt. So ist es doch durchaus verständlich, dass viele Schweizer Programme zwecks Identitätsbildung / Nähe zu den Hörerinnen und Hörern auch auf Schweizerdeutsch moderiert sind.
Wie immer bestätigen Ausnahmen die Regel: Talkmaster Ernst-Marcus Thomas, seines Zeichens ein Deutscher, moderiert den "EMT Talk" auf Star TV auf Hochdeutsch, seine Gäste antworten ihm auf Schweizerdeutsch - ich habe noch nie Proteste gegen diese Sendung gehört.
Der Ausbildungssender toxic.fm aus St. Gallen hat immer wieder deutsche Moderatoren und Redaktoren (deutsch: -eure) am Start (Beispiel:
http://toxic.fm/index.php?id=45&tx_ttnews[tt_news]=1925&tx_ttnews[backPid]=46&cHash=0f39440ac2). Da kommt doch überhaupt niemand auf die Idee, zu reklamieren.
Bavaria schrieb:
Zudem hat - glaube ich - noch keiner unserer Schweizer Freunde die Frage beantworten können, warum die Nachrichten (Fernsehen und Radio DRS) eigentlich immer in Schriftdeutsch vorgetragen werden?! Würde mich auch interessieren. Wenn man sich derart mit seinem Dialekt identifizieren und abgrenzen möchte, dann wären doch Nachrichten in Dialekt die logische Konsequenz, oder?
Die Schweiz ist ein Einwanderungsland. Von ca. 20 % Ausländern und vielen Touristen (schätze ich jetzt einfach mal) verstehen nur wenige einen Schweizer Dialekt. Deshalb sind alle Informationssendungen (Radio- und Fernsehnachrichten, kurzes Wetter am Ende der Nachrichten, Verkehrsmeldungen, im Fernsehen oft auch Reporter- und Hintergrundsendungen) in den staatlichen Sendern auf Hochdeutsch - schliesslich soll jeder das Gesagte 100-prozentig verstehen. Das Hochdeutsch bietet ganz einfach auch einen grösseren und präziseren Fachwortschatz als der Dialekt.
Die Regionalsender handhaben das mit der Sprache unterschiedlich und bleiben oft auch in den Nachrichten beim Schweizerdeutschen.
Bavaria schrieb:
Ebenso verwundert es mich, daß sich das "schriftsprachige" (ich vermeide bewusst "deutschsprachig", weil es das ja per Schweizer Definition nicht sein soll) Schweizer Radio/Fernsehen "DRS" nennt, was nichts anderes als "Deutsche und Rätoromanische Schweiz" heißt. Also schon wieder Deutsch!
Also das heisst ja nicht deutsch im Sinne von Deutschland! Wie du sicher weisst, hat die Schweiz verschiedene Landessprachen und darauf bezieht sich auf das "deutsch" in DRS. Übrigens hat die rätoromanische Schweiz seit einigen Jahren mit RTR noch eine eigene staatliche Abteilung erhalten. Auch die italienisch- und die französischsprachige Schweiz haben eigenes Radio und Fernsehen.
Gerne erwarte ich eure Nachfragen oder Kommentare und erkläre etwas auf euren Wunsch nochmals genauer - ich hoffe aber, etwas Klarheit in die Diskussion gebracht zu haben.
Liebe Grüsse von eurem Schweizer Nachbarn
flex