AW: MA 2011/I: Meinungen, Reaktionen
Eine wirklich aussagekräftige, international anerkannte und durchaus verlässliche Form der Datenermittlung wäre die Tagebuchmethode. Eine sorgfältig ausgewählte, nach soziologischen Kriterien repräsentativ ausgewählte Probandengruppe notiert innerhalb eines bestimmten Zeitraums Tag für Tag alle Einzelheiten bezüglich des aktiven, passiven, freiwilligen und unfreiwilligen Radiokonsums. Das auf Grundlage normierter Tabellen zusammengetragene Datenmaterial wird zu bestimmten Zeiten an die zentrale Datenbank übermittelt und abgeglichen. Auf diese Weise lässt sich ohne ausgeklügelte technische Finessen oder Spezialapparaturen eine verwertbare, glaubhafte Analyse des Hörverhaltens erstellen, die nicht dem Vorwurf von Verkürzungen, Pauschalisierungen und Ressentiments ausgesetzt ist, mit dem sich die "Media-Analyse Radio" seit jeher konfrontiert sieht.
Wenigstens kommt hier mal einer mit Alternativvorschlägen, anstatt nur auf die aktuelle Methodik einzuprügeln, wie es sonst hier üblich ist. Bedenke aber, dass die Tagebuch-Methode auch ihre entscheidenden Schwächen hat. Wer prüft, ob die Mediennutzung wirklich zeitnah eingetragen wird oder ob nur kurz vor Ende der Abgabe schnell durchgekreuzt wird? Mehr als kleine Stichprobenkontrollen sind kaum möglich. Wer prüft, ob tatsächlich Klaus-Dieter Mustermeier das Ding ausfüllt und nicht sein Sohn Leon-Justin? Die Tagebuch-Methode hat auch ihre Schwächen und ist unterm Strich nicht besser als eine Day-After-Recall-Befragung. Metersysteme wie die vielziterte Radiouhr aus der Schweiz haben genau so ihre Schwachstellen. Heißt "Audiosignal im Umfeld" automatisch, dass man ein Hörer ist? Dann braucht man als Sender nur ein paar Supermarktketten für sich zu gewinnen, die das Programm dudeln lassen, und schon ist jeder, der seinen Einkaufswagen durchschiebt, automatisch ein Hörer. Zudem gibt es seit langem massive Zweifel, ob das Audiomatching überhaupt richtig funktioniert. Und in einem zersplitterten Radiomarkt wie Deutschland wäre das Vorgehen mit mordsmäßigem Aufwand verbunden, den niemand bezahlen kann/will. Da sind die Arbitron-Pager schon besser, weil hier nicht auf Audiomatching, sondern auf nicht hörbare ID-Signale der Sender gesetzt wird. Aber auch das hat sich nicht durchgesetzt. Ideal wäre aus meiner Sicht eine Kombination aus Befragung und Messung. Aber dafür müsste jeder Teilbereich ausreichend große Fallzahlen haben. Man müsste also, wenn man zusätzlich zur Befragung noch eine Messung, etwa im Arbitron-Style, durchführt, die Fallzahlen mindestens verdoppeln. Und das fällt aus wegen is' nich'. Auch wenn die Recallbefragung eine bestimmte Art des Radiomachens bevorzugt und es nicht darauf ankommt, was die Leute tatsächlich hören, sondern was sie sagen/meinen dass sie es hören, ist diese Methodik nach meinem Dafürhalten immer noch die sauberste von allen. Ich sehe keine ernsthaften Alternativen, auch wenn es mich regelmäßig ärgert, dass die Dudelfunker geschickt ihren Nutzen daraus ziehen. Lemmers MA-Kommentar finde ich im Übrigen völlig daneben. Aber man weiß ja, aus welcher Ecke er kommt.
@count down: Meinst du Mapping Studien oder Trackings? Das ist ein ganz kleiner Unterschied. Falls du Mapping Studien und die MA-Zahlen ernsthaft vergleichen möchtest, rate ich dir, dich nochmal intensiv damit zu beschäftigen, bevor du hier was von ominöser Sprengkraft faselst.
@TS2010: Auf der Flughöhe von Radio Paradiso und Jam FM zu "schweben", ist aber auch nicht gerade ein Erfolg ... Und dass sich das rbb inforadio an Radio Eins vorbeigeschoben hat, würde ich auch nicht gerade als Beleg anführen. Zum einen ist Radio Eins aus meiner Sicht genau so ein an qualitativem Wort ausgerichtetes Programm, zum anderen ist Inforadio eben nur etwas weniger heftig abgestürzt, verloren haben beide. Man kann alles in allem schon sagen, dass Wortprogramme es schwer haben. Liegt am Politik-Geklüngel, wenn man Oberfachmann Lemmer fragt ...
Danke übrigens für deine Ausführungen zu Arbitron. Schön, dass sich wenigstens ein paar Einzelkämpfer hier etwas intensiver damit befassen, bevor sie zur üblichen MA-Schelte übergehen.
@ricochet: Das verwundert dich? Dass mehr Männer Classic Rock Formate hören und mehr Frauen AC? Mit Verlaub, das ist Radiowissen von vorgestern.
@alle Mobilfunk-Befragungsfreunde: Eine kleine Binsenweisheit nochmalan dieser Stelle: Der Radiomarkt in Deutschland ist regional zersplittert. Demzufolge müssen auch die Befragungen auf regional begrenzte Gebiete (Splits) eingegrenzt werden. wenn ich eine Handynummer anrufe, weiß ich aber nicht, ob ich in Flensburg, München oder Hinterknödelsberg rauskomme. Man arbeitet seit Jahren an Lösungen, aber das Problem ist nicht so einfach zu beheben. Ein anderes Problem ist der Kostenfaktor. Zwar sind Handygespräche über die Jahre billiger geworden, aber noch immer würde es eine Kostensteigerung nach sich ziehen, wenn man in großem Stil auch Handynummern anrufen würde. Ein letzter Punkt wurde bereits genannt: Die wenigsten Leute haben gerade Zeit, sich einer 20-Minuten-Umfrage zu unterziehen, wenn sie unterwegs sind. Und klar ist auch: Die Zahl derer, die überhaupt keine Festnetznummer haben, wird von vielen überschätzt. Da zu einem vernünftigen DSL-Paket heute eine Festnetz-Flat dazugehört und es auch Sachen wie die Home Zone gibt, haben auch viele Junge, die sich nie einen alleinigen Telefonanschluss zugelegt hätten, heute ne Festnetznummer. Und ob sie im Telefonbuch steht, tut ohnehin nichts zur Sache bei solchen Befragungen, wie jeder weiß, der sich mit der Nummernauswahl mal kurz befasst hat.
Sorry für die langen Ausführungen. Ist halt mein Lieblingsthema