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"Privatradio" in der DDR - gefunden in der Leipziger Volkszeitung vom Mittwoch:
"Heute Nachmittag gibt's Musik"
Im Sommer 1959 zog der Rock 'n' Roll in Holzhausen ein: Auf der UKW-Frequenz 100 spielten zwei junge Amateurfunker fast jeden Nachmittag die Hits ihrer Idole: Elvis, Jerry Lee Lewis, Chuck Berry, Bill Haley und Little Richard. Als die Stasi den "Sender Freies Holzhausen" entdeckte, nahm der Spaß ein jähes Ende. Thomas Schiegl, einer der beiden Funker, hat die Geschichte des wohl einzigen Rock-'n'-Roll-Senders der DDR jetzt noch einmal aufgerollt.
Über 40 Jahre ist das Ganze schon her - und nur für ein paar Monate gab es den "Sender Freies Holzhausen" überhaupt. Thomas Schiegl, heute 59 Jahre alt, muss ein wenig im Gedächtnis kramen, um die Erinnerungen an den Sommer 1959 zurückzuholen. Doch dann ist alles wieder da. Die Rock-'n'-Roll-Begeisterung der 50er-Jahre: "Jeden Freitag saßen wir vorm Radio und hörten im Rias die ,Schlager der Woche'", erinnert sich Schiegl. Die Zeit der großen Radio-Stars: "Chris Howlands Sendung ,Studio 8' begann erst nach Mitternacht - aber der ließ die neuesten Scheiben extra aus Amerika kommen."
Doch auch die Anklageschrift der Stasi hat Schiegl wiedergefunden: Damit wurde sein Freund Dieter Woellner zu einem Jahr Zwangsarbeit verurteilt, von der er sich gesundheitlich nie erholt hat.
Mutter gab Geld für Ersatzteile
Ganz langsam nahm die Geschichte des "Sender Freies Holzhausen" Ende der 50er-Jahre ihren Anfang. "Als ein Freund uns bat, ein Sendegerät zu bauen, waren wir Feuer und Flamme", erinnert sich Schiegl, der schon als Kind mit Elektrotechnik experimentierte. "An Musik haben wir da noch gar nicht gedacht", ist sich Schiegl sicher. Die Mutter spendierte das Geld für die Ersatzteile, die Theorie erklärte ein Handbuch. Ein Jahr später war das technische Problem gelöst: Der damals 15-jährige Hobby-Elektriker und sein Freund Woellner konnten sich mit zwei Sendegeräten via Radio unterhalten.
Bis zum "Sender Freies Holzhausen" war es dann nicht mehr weit. Ihre Lieblingstitel hatten die beiden auf Tonbändern mitgeschnitten. Von April 1959 an spielten die Amateurfunker fast jeden Nachmittag vier Stunden lang die Hits aus Übersee. "Dreht Eure Antennen - heute Nachmittag gibt's Musik", instruierte Schiegl seine Klassenkameraden, bevor er - nur wenige Kilometer von der offiziellen Funkmessstelle in Holzhausen entfernt - loslegte. Ab- und zu eine Ansage - das Tonband wurde auf Stop gedrückt -, ein Lehrerwitz oder ein zotiges Gedicht lockerten die Sendungen auf.
Auf drei bis vier Kilometer schätzt Schiegl den Funkradius aus der Hauptstraße in der Ortsmitte, in dem jeder die Sendung empfangen konnte. Unter Holzhausens Jugendlichen hatte sich bald eine Fangemeinde gebildet. Als einer von ihnen nachfragte: "Wann kommt er denn wieder, Eurer Sender Freies Holzhausen?" - da war der passende Name für die Rock-'n'-Roll-Station gefunden.
Sieben Monate lang blieb der Sender unentdeckt. Doch eines Tages im November 1959 stand die Staatssicherheit vor dem Vulkanisier-Betrieb des Vaters. "In einem alten BMW wurde ich in eine Villa in der Karl-Tauchnitz-Straße gebracht und 13 Stunden verhört", erinnert sich Schiegl.
15-Jähriger kam in Einzelhaft
Zwei Wochen Einzelhaft folgten, in denen der 15-Jährige in einer leeren Zelle die Minuten zählte. Dann noch einmal zwei Wochen in einer An-stalt mit gewöhnlichen Kriminellen. Schließlich kam Schiegl frei. Immer wieder hätten die Stasi-Leute ihn gedrängt, der dekadenten Musik aus dem Westen abzuschwören. Doch heute ist sich Schiegl sicher: "Das Schlimmste war der Name des Senders - der hat ihnen Angst gemacht."
Verurteilt wurden in seinem Fall nur die Eltern zu einer Geldstrafe. Seinen Freund, den volljährigen Dieter Woellner, traf es härter. Auch andere Delikte hängte die Stasi ihm an - schließlich wurde er, so Schiegl, zu Zwangsarbeit in einem Zementwerk bei Halle verurteilt: "Er hat sich eine Staublunge dabei geholt."
Auch Schiegl hatte sich in der U-Haft von der DDR entfremdet. "Ich liebte den Staat nicht mehr so wie vorher", sagt er mit leiser Ironie. 1961, kurz vor dem Bau der Mauer, wollte der Holzhausener ausreisen - kehrte aber im Ausreiselager Marienfelde doch wieder um. Im Dezember 2000 wurde er offiziell rehabilitiert. Auch diesen Bescheid hat er aufgehoben. Die historischen Dokumente wird er jetzt dem Heimatverein zur Verfügung stellen, damit Holzhausens kurze Rock-'n'-Roll-Radiogeschichte aufgearbeitet werden kann.
Stephanie von Aretin