AW: Der Fall "Sarrazin" im Radio
Intolerant sind immer Menschen, nicht Religionen, genauso, wie sich Intoleranz auch in allen Religionen finden läßt. Ich würde sogar die gewagte These aufstellen, daß sich das ziemlich gleich sein dürfte, egal, wohin man blickt. Das ist ja auch nur natürlich, wenn man bedenkt, wofür Religion eigentlich steht: Religion ist die Kompensation für das, was man verstandesmäßig nicht begreifen kann, oder wovor man Angst hat. An erster Stelle die uralte Menschheitsfrage "wo komme ich her, wo gehe ich hin?". Aber auch "fremdes" im ganz allgemeinen Sinne macht vielen Menschen Angst, weil man es nicht einschätzen kann. Uralte Instinkte schreien dann immer noch "paß auf". Viele Menschen wissen darum und viele können auch weitgehend gut damit umgehen - das sind die, die Vorurteile als solche erkennen und deshalb Toleranz üben können. Anderen gelingt das weniger gut, gerade das Unbewußte spielt da eine große Rolle - so kann es dann zur Angst vor dem Fremden und daraus geboren zur Intoleranz führen.
Dabei ist besonders wichtig zu beachten: jeder Mensch ist hier anders. Jeder entwickelt seine eigenen Strategien, mehr oder weniger bewußt, damit umzugehen. Deshalb im Zuge solcher Diskussion "die Muslime", "die Christen", "die Hartz IV Empfänger", "die Ausländer" oder sonstwen zu benennen ist schlicht unzulässig. Es gibt sicherlich Menschen, die eine "Islamisierung Europas" wollen. Es gibt genauso aber auch Menschen, die sich hier sehr wohl integrieren wollen.
Integrieren ist weder Assimiliation noch Multi-Kulti. Wer in ein fremdes Land geht, bringt seine Kultur mit. Das führt zum Beispiel zu bayerischen Wurstbratereien mitten in Ohio (mal als Beispiel konstruiert). Das ist auch völlig in Ordnung. Wer aus der Türkei nach Deutschland kommt hat natürlich das Bedürfnis, türkisch zu sprechen, türkische Gerichte zuzubereiten und das Schweineschnitzel mit Sauerkraut vermutlich nicht zum Lieblingsessen mutieren wird, bedarf auch keiner weiteren Erläuterung. Aber: wer in ein fremdes Land geht, muß sich auch den dortigen Sitten und Gebräuchen anpassen. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein - aber genau da liegt der Hase im Pfeffer: offensichtlich ist es das nicht für alle. Ich sage nur: "Man spricht deutsch". Mitten in Spanien, auf Mallorca, das manche (habe ich schon gehört) als neues Bundesland hätten. Selbst, wenn man sowas im Scherz sagt, steckt da oft mindestens ein Körnchen Wahrheit drin. Der "König von Malle"? Ein Deutscher... Wie überall im Leben muß sich eine Balance einstellen zwischen der mitgebrachten Kultur und der des Gastlandes. Das ist Integration und eine hohe Kunst. Voraussetzungen dafür sind aber auch Richtlinien und Möglichkeiten. Wer in ein fremdes Land geht, hat vielleicht schon ein wenig Wissen über sein Gastland. Vielleicht gelesen, vielleicht gehört, vielleicht etwas im fernsehen gesehen - oder auch nicht. Jeder kommt mit einem anderen Wissensstand hier an und man kann von niemandem verlangen, einen bestimmten "Standard" mitzubringen. Trotzdem muß man sehr wohl etwas fordern. Dazu gehört zum Beispiel das Erlernen der Sprache. Wer auf Dauer in einem Land leben will, in dem eine andere als seine Mutersprache gesprochen wird, muß diese Sprache lernen, so gut es ihm eben möglich ist. Das ist eine Grundvoraussetzung und sollte daher unbedingt auch eingefordert werden. Es kann nicht angehen, das ein Gastland seine Ämter mit Personal besetzt, die der Sprachen aller Herren Länder mächtig sind. Es ließen sich auch andere Beispiele diskutieren, aber das führt hier zu weit. Wichtig ist, daß ein Gastland für eine erfolgreiche Integration von zugewanderten Neubürgern einen gewissen Standard, wie niedrig er auch sei, verlangen muß - sonst artet das ganze in Multi-Kulti aus, wo jeder machen kann, was ihm gerade beliebt. Daß man das nicht mit der berühmten deutschen Gründlichkeit übertreiben darf sollte benso klar sein. Wenn ich von jedem, der bei uns leben möchte, ein abgeschlossenes Germanistikstudium verlange, ist auch keinem gedient. Es muß eine Balance herrschen und dazu gehört eben auch, die Möglichkeiten zu schaffen. Sprachkurse, Kindergartenplätze für den Nachwuchs, kulturelle Angebote - ja das kostet Geld, aber es spart auf der anderen Seite Geld für nicht eingetretene Folgen, die eintreten, wenn man solche Integration versäumt. "Fordern und fördern" könnte man so ein Programm nennen.
Zurück zur aktuellen Situation. Wir haben dieses Thema jahrzehntelang verschlafen (mit "wir" meine ich in diesem Fall in erster Linie die deutsche Politik). Gründe dafür gibt es viele. Nach dem Krieg spielt es sicherlich auch eine Rolle, daß man als Deutscher, wenn man etwas gegen "andere" gleich welcher Couleur sagt, sofort befürchten muß, in die rechte Ecke gestellt zu werden - wie man ja auch in diesem Faden wiederholt gesehen hat. Es wurde vielleicht nicht gleich mit der Nazikeule zugeschlagen, aber damit gewedelt wurde schon das eine oder andere mal. Daß sich unsere glattgeschliffenen Politiker davon keine Beule einfangen wollen, ist zwar nachvollziehbar, aber nicht zweckdienlich. Die Grundsteine für das Dilemma wurden, wie schon erwähnt, in den 50er Jahren gelegt, als nach dem Krieg massenhaft Arbeit, aber zuwenig Arbeiter verfügbar waren. Die hat man schnell aus dem Ausland geholt, es aber versäumt, sich darüber Gedanken zu machen, wie denn die Zukunft aussehen könnte. Die fortschreitende Automatisierung in Industrie/Handwerk/Landwirtschaft vernichtet mehr Arbeitsplätze, als sie schafft so kam es nach einigen Jahrzehnten zur Umkehrung der Situation: plötzlich waren mehr Arbeitskräfte als Arbeitsplätze vorhanden. Dadurch (und einer anderen Reihe Gründen, die ich in dieser Diskussion außen vor lasse) bildet sich nach und nach eine Unterschicht, der es zunehmend schwerfällt, überhaupt an der Gesellschaft teilzuhaben. Ich sehe es bei unseren Kindern in der Schule: da gibt es Eltern, die überlegen müssen, ob sie sich ein Übungsbuch für €5,95 für ihren Sprößling leisten können, von der Klassenfahrt für €130,- mal ganz zu schweigen. Die Schule selbst sieht auch nicht besser aus, längst müssen die Eltern "Schulgeld" bezahlen - hintenrum: als "Kopiergeld" "Umlage" oder sonstwie getarnt. Gerade gestern am Elternabend gehört: "normalerweise würden wir ja eine Mitteilung schicken, wenn ein Kind seine Hausaufgaben mehrfach nicht vorweisen kann, aber dafür ist kein Geld mehr da"... wohlgemerkt: diese Unterschicht rekrutiert sich nicht allein aus Zuwanderen oder deren Nachkommen, sondern auch Familien, die seit eh und je hier leben, sind betroffen.
Auf der anderen Seite gibt es Milliarden-Rettungsschirme für angeschlagene Banken... alle diese Probleme hängen miteinander zusammen, deswegen kann man durch das "Lösen" einer "Asuländerfrage" auch nicht wirklich eine Besserung erzielen - wie schon geschrieben, die Sau schreit halt schön laut, wenn man sie durch's Dorf treibt. Viel wichtiger wäre in meinen Augen, zu erkennen, daß es sich nicht um Problem sondern um einen Problemkomplex handelt und zu beginnen, nach den Ursachen zu forschen und dann aus diesen Überlegungen Lösungsansätze zu formulieren. Angst, Polemik und Rabulistik sind dabei schlechte Berater. Es kommt darauf an, einen kühlen Kopf zu bewahren (fällt auch mir bisweilen schwer, das gebe ich zu) und Lösungen zu suchen. Die Thesen Thilo Sarrazins haben zumindest eines bewirkt: das Thema ist in den Fokus geraten. Auch wenn die Thesen teilweise hanebüchen sind, die Diskussion darüber war überfällig. Die intolerante Haltung, der er jedoch zur Schau stellt, unterscheidet sich in keiner Weise von der, die er denen, die er angreift, vorwirft. Damit schließt sich der Kreis: intolerant sind immer Menschen.
Wie kann man das Dilemma lösen? Die angesprochenen Probleme hängen alle miteinander zusammen. Eines zu "lösen", wie auch immer, löst noch längst nicht die anderen - vielleicht verschiebt es sogar nur den Fokus. Es ist vielleicht an der Zeit, Probleme nicht mehr isoliert, sondern im Ganzen zu betrachten, um eine auf Dauer tragfähigere Lösung für die menschliche Gemeinschaft zu erreichen. Dazu gehört, zu erkennen, daß die Aussagen "alle Menschen sind gleich" und "alle Menschen sind verschieden" beide wahr und unwahr zugleich sind. Wahr sind sie in jeweils ihrem eigenen Kontext, der aber individuell bestimmt werden muß. Das Problem jedweder Gesellschaft ist nämlich eben dieses: eine Gesellschaft ist die Summe vieler Individuen, jedes mit eigenen Bedürfnissen. Obwohl es durchaus weitgehende Überschneidungen gibt, gibt es auch Bereiche, in den Pauschalisierungen unzulässig sind. Das wird meines Erachtens derzeit zu wenig berücksichtigt und vielleicht könnte da ein Umdenken helfen, aus den Problemen von heute Lösungen für morgen zu entwickeln. Das ist ein langer, schwerer Weg, aber dazu sind wir schließlich Menschen und dafür haben wir unseren Kopf: um uns Gedanken zu machen.
LG
McCavity
P.S.: Ja, ich bin mal wieder vom hundertsten ins tausendste gekommen und ja, das klingt alles verworren - aber genauso verworren sind meine Gedanken. Das Problem ist halt ein komplexes und je schärfer man hinschaut, um so verschwommener wird es