In Wahrheit doktert die Eurogruppe seit Jahren nur an den Symptomen herum und verteilt mit ihrer Brückenfinanzierung emsig Heftpflaster um wieder neu aufbrechende Wunden zu stillen, während der Patient innerlich verblutet.
Als Gegenleistung für die Kredite aus dem Euro-Rettungsfonds verlangten die Austeritätsexperten harte und schmerzhafte Reformen an Haupt und Gliedern und beschnitten die Kaufkraft durch die Abschnürung des Geldflusses im Wirtschaftsleben bis auf ein unerträgliches Maß - womit sie der Wirtschaft erst recht den Todesstoß versetzten.
Wenig weitblickende Juristen und Finanzfachleute wie Schäuble und Dijsselbloem, die mit kurzsichtigen Eingriffen, ineffizienten Reformmaßnahmen und populistischen Sparanforderungen ein ganzes Land in die wirtschaftliche Kapitulation trieben, versuchten mit ihrem unnützen Aktionismus vor allem bei ihren nationalen Wählern zu punkten. Währenddessen wurde die Schuldenproblematik Griechenlands nur verschleppt bis die Verbindlichkeiten ungeahnte Ausmaße erreicht hatten. Nun heißt es: Alles auf Anfang, nur eben unter verschlechterten Startbedingungen.
Griechenland war schon vor sechs Jahren zahlungsunfähig und hätte längst eines großzügigen und weitsichtigen Marshallplanes bedurft, der mit einer grundlegenden Neuorganisation des Staatsaufbaus und veränderten sozialpolitischen Bedingungen einhergehen hätte müssen, denn:
- Der griechische Sozialstaat ist ein einziges Fiasko. Das nepotistische und korruptionsdurchseuchte politische System sorgte jahrzehntelang dafür, dass von Arbeitslosigkeit bedrohte Bürger im öffentlichen Dienst unterkamen und für ineffiziente und redundante Tätigkeiten fürstlich entlohnt wurden. Früher zählten allein die richtigen Verbindungen und Beziehungen, und wer die richtigen Leute kannte, wurde quasi fürs Nichtstun bezahlt. Der Beamtenstaat war dementsprechend aufgebläht und riss enorme Löcher in den Staatshaushalt, bis die Euroreformer um Herrn Schäuble das Versorgungsparadies nach der Rasenmähermethode zurechtstutzten: Mit dem Ergebnis, dass plötzlich ein Heer von arbeitslosen und verzweifelten Ex-Beamten auf der Straße saß und Syriza wählte. Ihre Ängste waren berechtigt, denn
- in Griechenland läuft die Arbeitslosenunterstützung nach 12 Monaten ersatzlos aus. Wer über keinerlei Rücklagen oder alternative Einnahmequellen verfügt, war binnen kürzester Zeit verarmt. Da nur arbeitende Bürger krankenversichert sind, fraßen eventuelle Arztbesuche oder Krankenhausaufenthalte die letzten Ersparnisse auf. Ein Volk sah hilflos der Verelendung entgegen, weil ahnungslose Eurokraten, die die landesspezifischen Verhältnisse kaum kannten, die falschen Forderungen aufstellten und nur nach fiskalischen, nicht aber nach nationalökonomisch durchdachten und sozialpolitischen Maßgaben handelten. Wenn aber ein Großteil der Kaufkraft wegen fehlenden Volkseinkommens wegbricht,
- gehen Kleingewerbe und mittelständische Wirtschaft zugrunde. Da sich kaum noch jemand handwerkliche Dienstleistungen, Instandhaltungsarbeiten, Neubauten, Großinvestitionen und Luxusartikel leisten konnte, schlitterten immer mehr gewerbliche Betriebe in die Zahlungsunfähigkeit und entließen ihre Mitarbeiter in die Arbeitslosigkeit. Mangels inländischer Nachfrage folgten ihnen die im Verhältnis zu ausländischen Unternehmen oft zu teuer produzierenden Mittelständler, die im harten Preiskampf gegenüber Importartikeln extrem benachteiligt waren und ihre Produktion demzufolge stark einschränken mussten - mit dem Ergebnis, dass immer mehr Menschen ihre Arbeit, ihr Einkommen, ihre Krankenversicherung und binnen Jahresfrist sogar ihre soziale Mindestabsicherung verloren. Da fragt man sich doch zurecht wovon all die mittellosen Menschen leben sollen, die oft schon nach beendeter Berufsausbildung oder nach dem Studienabschluss vor dem Nichts standen. Waren die Eltern, wie so oft der Fall, ebenfalls arbeitslos oder einkommensschwach, ernährten sie sich üblicherweise von den
- viel zu hohen griechischen Renten- und Altersbezügen (wie die osteuropäischen EU-Mitglieder oft genug monierten). Manche Rentner und Pensionäre füttern gleich drei Generationen durch, bieten ihren obdachlosen Kindern und Kindeskindern Unterschlupf und kommen mit ihrer "viel zu hohen Rente" auf keinen grünen Klee. So wird ein ganzes Land in die soziale Verelendung getrieben, weil der nun zu Recht untergegangene Versorgungsstaat lange Zeit nur auf halbstaatlicher Vetternwirtschaft und Vitamin B beruhte und keine effiziente Sozialgesetzgebung kannte. Ein funktionierender Sozialstaat wäre unter den gegenwärtigen Bedingungen aber dringend vonnöten um die krassessten Auswüchse an Not und Elend zu mildern. Weil eine hohe Arbeitslosigkeit enorme Steuerausfälle nach sich zieht, die einzige Großindustrie des Landes (die Reederei) von zahlreichen Steuervergünstigungen profitiert und Reiche ihr Geld nach wie vor erfolgreich im Ausland verstecken können, ging der griechische Staat trotz üppiger Eurohilfspakete im Laufe der Jahre endgültig vor die Hunde.
Dass Reformen Zeit brauchen und angesichts systemischer Widerstände oft erst nach und nach durchgesetzt werden können, dass viele Reformbremsen innerhalb und außerhalb der wechselnden Regierungskonstellationen den fahrenden Zug aufhalten wollten und viele von außen verhängte Maßnahmen wegen der in Expertenkreisen mittlerweile hinlänglich bekannten und oben kurz angerissenen Zusammenhänge untauglich waren, kommt erschwerend hinzu.
Eine sterbende Kuh kann man nicht melken, dieser Einsicht folgten ein Schuldenschnitt für Privatgläubiger, diverse Zinssenkungen und Fristverlängerungen - was Griechenland aber wirklich gebraucht hätte ist ein gründlich durchorchestriertes und international abgesegnetes Wiederaufbauprogramm unter Berücksichtigung der nationalen Gegebenheiten. Der griechische Staat muss nämlich auf eine völlig neue wirtschaftliche, rechtliche, fiskalische und sozialpolitische Grundlage gestellt werden um zu verhindern, dass immer wieder Geld in dunklen Kanälen versickert oder nur noch der Bankenrettung zugeführt wird, statt die gesellschaftliche Misere zu beheben. Im ökonomischen Befund sind die sich stets im Kreis drehenden Fernsehtalkrunden mit den meisten Printmedien einig, von meinungsgeladenenen Hetzblättern wie der BILD-Zeitung mal abgesehen.
Aber die Hauptursache der Krise, nämlich die Armutsspirale, die die Liquidität der griechischen Wirtschaft stärker austrocknet als die ohnehin kreditfinanzierten Zinszahlungen an Gläubigerstaaten und -organisationen, wird kaum benannt oder gar erkannt. Und die, die sie kennen, standen angesichts der plumpen Griechenland-Anfeindungen in der deutschen Öffentlichkeit lange auf verlorenem Posten. Doch jetzt wagen sich IWF und US-Regierung, aufgeschreckt durch die Kapitalpleite Puerto Ricos, endlich aus der Reserve und verstärken ihren Druck auf die Schäubles und Dijsselbloems, die mit harten Bandagen und wilden Grexit-Drohungen von Last-Minute-Gipfel zu Last-Minute-Gipfel eilten und mehr Geld verbrannt haben als aus heutiger Sicht sinnvoll erscheint.